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Formen der Reportage Kisch anwandte, um auch eine Leserschaft außerhalb des Kreises gleichgesinnter EmigrantenkollegInnen anzusprechen. Sie macht zudem bewusst, welche Schwierigkeiten sich aufgrund fehlender Informationen und Diskurse im Exil für das Bemühen um einen innovativen Gehalt der Reportagen ergeben. Auch aus Rücksichtnahme auf Angehörige im Deutschen Reich war mit Informationen extrem vorsichtig umzugehen. Es verwundert allerdings ein wenig, dass in diesem Kontext zwar deutsche und deutschsprachige Organisationen und Institutionen behandelt werden, dass die Autorin hingegen auf Kischs publizistisches und politisches Engagement in tschechoslowakischen Organisationen bis auf eine Randbemerkung nicht eingeht. Kisch war zwar deutschsprachig, doch verfügte er gleichzeitig über Identitäten als Prager und Jude, der seine Sozialisation in der österreichisch-ungarischen Monarchie erfahren hatte und sich für die Tschechoslowakei politisch und publizistisch engagierte. So war er etwa Mitglied der Asociaciön Checoeslovaco-Mexicana. Österreicher, Tschechoslowaken und Deutsche gemeindeten ihn anlässlich der Feiern zu seinem 60. Geburtstag gleichermaßen ein. Zudem sind Exilwerk und politisches Engagement von Kisch, wie die Autorin zu Recht betont, eng miteinander verflochten. Mittels der beiden letzten, im Exil veröffentlichten Werke Kischs, Marktplatz der Sensationen(1942) und Entdeckungen in Mexiko (1945) analysiert Ceballos Betancur überzeugend, dass die Reportage von Kisch als literarisches Genre zu verstehen ist. Marktplatz der Sensationen ist gattungstheoretisch eine Autobiographie, eine vermeintliche Reportagensammlung. Sein alter ego als vermittelnde, reflektierende, handelnde, kommentierende Instanz mittels „verfremdeter Subjektivation“ ist in Kischs Texten ständig präsent. Zudem räumte er der „logischen Phantasie“ weitaus mehr Spielraum ein als etwa dreißig Jahre zuvor. Er gesteht den Texten Authentizität zu, ohne dieser gerecht zu werden. In seinen Entdeckungen in Mexiko thematisiert Kisch aktuelle Gegebenheiten und Kulturgeschichte des Aufnahmelandes, in die er Bemerkungen über die Exilantenexistenz und Bezüge zu Europa einfließen lässt. Während ethnische Gruppen meist idealisiert werden, weist die Autorin auch Ausrutscher in Form von rassistischen Klischees des Europäers nach, der eine eurozentristische Position gelegentlich zu überdenken vergisst. Die bedeutende Rolle der Ironie in Kischs Texten streicht Ceballos Betancur im Zusammenhang Entdeckungen in Mexiko hervor. Dass die Kunst der Zuspitzung in Bildern seinem Judentum zu verdanken sei, wie Dieter Schlenstedt konstatierte, bezweifelt sie. Doch spielt die Tradition jüdischen Witzes — gerade auch im Prager Umfeld - eine bedeutende Rolle. Der vorliegende Band stellt zunächst eine wichtige Ergänzung zu Marcus Patkas umfangreicher biographischer Studie (Egon Erwin Kisch. Stationen im Leben eines streitbaren Autors, 1997) dar, in der Netzwerke rekonstruiert, (weltanschauliche) Konflikte unter EmigrantInnen beschrieben und die Exilstationen Kischs minutiös recherchiert wurden, in der die literaturwissenschaftliche Analyse der Texte aber zu kurz kommt. Karin Ceballos Betancur zeichnet überzeugend nach, dass in Kischs Werken eine Grenzziehung zwischen Journalismus und Literatur nicht möglich ist und dass sich das Wechselverhältnis zwischen Tatsachen und Fiktion in der Exilsituation deutlich zu Gunsten letzterer verschob. Es gelingt ihr, in einer knappen, komprimierten, jedoch sehr schlüssigen Analyse in sprachlich gewandter Form ein Beispiel für die Reportage als Literaturform zu bieten. Es bleibt zu hoffen, dass Kisch als herausragendes Beispiel für einen Autor, der zwischen Fiktion und Faktischem zu lavieren verstand, verstärkt Eingang in den literaturwissenschaftlichen Kanon findet. Ursula Prutsch Karin Ceballos Betancur: Egon Erwin Kisch in Mexiko. Die Reportage als Literaturform im Exil. Frankfurt/Main u.a.: Peter Lang 2000. 184 S. (Analysen und Dokumente. Beiträge zur Neueren Literatur. 42). Französische Internierungslager 1940 - 1942 In der Geschichte der gescheiterten Fluchten vor der NS-Mordmaschinerie spielen die französischen Internierungslager der Jahre 1940-42 eine besonders tragische Rolle. Tausenden deutschen und österreichischen jüdischen Flüchtlingen war eine Emigration in das vermeintlich sichere und demokratische Frankreich geglückt. Doch mit Kriegsbeginn setzte — ähnlich wie in Großbritannien — die Identifikation der deutschsprachigen Flüchtlinge mit dem Feind ein. Innenminister Serraut erklärte am 8. Dezember 1939, Deutschland habe „falsche Juden und falsche Antinazis nach Frankreich geschickt, um zu spionieren“. Ein Großteil der französischen Presse und wohl auch der Bevölkerung begrüßten deshalb die Internierung „feindlicher Ausländer“. Eine zweite, noch größere Internierungswelle begann mit dem deutschen Angriff auf Frankreich und die Benelux-Staaten. In den Internierungslagern spielten sich beim Herannahen der deutschen Armeen unbeschreibliche Szenen ab. Einige kann man etwa bei Soma Morgenstern („Flucht in Frankreich‘), Lion Feuchtwanger (,,Der Teufel in Frankreich“) oder Georg Scheuer (,,Nur Narren fiirchten nichts“) nachlesen. Manchen Internierten gelang die Flucht in den unbesetzten Süden — doch dort entstand gerade Vichy-Frankreich, das nur zu bereitwillig mit den NS-Behörden zusammenarbeitete. Dies zeigte sich zuerst bei der Erfüllung des Artikel 19.2 des Waffenstillstandsabkommens, der sich direkt auf die französischen Internierungslager bezog: „Die französische Regierung ist verpflichtet, alle die in Frankreich sowie in den französischen Besitzungen befindlichen Deutschen, die von der deutschen Reichsregierung namhaft gemacht werden, auf Verlangen auszuliefern.“ Die sogenannte „KundtKommission“ überprüfte nun die Internierungslager. Der US-amerikanische Journalist Varian Fry, der unter dem Deckmantel einer Wohltätigkeitsorganisation von Marseille aus einer großen Zahl von Künstlern, Politikern und Gewerkschaftern die Flucht vor dem NSRegime ermöglichte, schreibt dazu in seinem Buch „Auslieferung auf Verlangen“: „Vor allem aber war es die ‚Kundt-Kommission’, die uns das Gefühl gab, daß wir nun sehr schnell handeln mußten, wenn wir noch einige der in Frankreich gefährdeten Flüchtlinge retten wollten.‘ Opfer der „Kundt-Kommission“ wurden etwa der Industrielle Thyssen, die SPDPolitiker Rudolf Breitscheid und Rudolf Hilferding sowie die ehemaligen Reichstagsabgeordneten der KPD Franz Dahlem, Siegfried Rädel und Heinrich Rau. Die französischen Behörden verzögerten danach jedoch gezielt die Auslieferungen, da diese in weiten Kreisen als entehrend empfunden wurden. Eine ähnliche Behinderung der deutschen Wünsche aufgrund des verletzten französischen Ehrgefühls gab es von Seiten Vichy-Frankreichs bei der Deportation der deutschsprachigen Juden im Jahr 1942 nicht. Am 27. März 1942 verließ der erste Deportationszug aus Frankreich das Sammellager Compiégne in Richtung Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau. Diese und die folgenden Deportationen konnten nur mit Hilfe der französischen Behörden durchgeführt werden. In ganz Frankreich verfügten die deutschen Besatzer nur über drei Bataillone Ordnungspolizei mit insgesamt 3.000 Mann, sodaß Razzien und Massenverhaftungen nur gemeinsam mit der französischen Polizei in die Tat umgesetzt werden konnten. Zunächst hielt Theodor Dannecker, der Organisator der sogenannten „Endlösung“ in Frankreich und enge Vertraute Eichmanns, seine Zusage ein, die französischen Juden unangetastet zu lassen, obwohl er natürlich bereits die Deportation aller Juden ohne Rücksicht auf ihre allfällige Staatsangehörigkeit plante und schlußendlich auch durchführen ließ. Insgesamt sind über 11.000 Menschen, von denen die meisten aus dem deutschsprachigen Raum stammten, aus der unbesetzten Zone den Deportationen im Jahr 1942 — meist über das Sammellager Drancy nach Auschwitz — zum Opfer gefallen. Christian Eggers’ umfangreiche Studie geht dem Schicksal der Juden aus Deutschland und Mitteleuropa in den französischen Internierungslagern nach. Er beschäftigt sich im ersten großen Abschnitt seiner Arbeit mit dem Lagersystem (insgesamt gab es alleine in Südfrankreich über 400 Lager) und den Änderungen, 73