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der Moderne weiterzuführen und gegen die Kräfte zu verteidigen, die das Rad der Zeit zurückdrehen wollten ...“ Zunächst ein Wort über den Aufbau dieses intellektuellen „Begleitbuches“! Nach Elisabeth Nemeths Einleitung, die eine kurzgefaßte Geschichte aufgeklärten liberalen und sozialistischen Denkens in Wien darstellt, stoßen wir auf vierzehn Seiten mit Zeittafeln, die in ihren Spalten die politische Geschichte, das Wirken von Volksbildung und Wiener Kreis und schließlich Architektur und Künste einander gegenüberstellen. Die Tafeln beginnen mit dem 12. November 1918, dem Tag der Ausrufung der Republik, und enden mit dem 10. April 1938, dem Tag der sogenannten Volksabstimmung über den sogenannten Anschluß. Schon hier sei angemerkt, daß die Wanderungen, zu denen uns das „Begleitbuch“ verführt, in manchen Fällen über diese Daten hinausreichen. Und nun geht es los! Auf den folgenden Seiten sind die topographischen Ziele registriert, beschrieben und häufig sogar mit einem Potrträt, einer Fassadenansicht oder einem historischen Foto illustriert. Leider sind es weniger als angegeben, weil zwischen Nr. 228 und 300 offenbar durch Versehen des Verlags eine Lücke klafft. Da sich die Autoren auf ein Gehen durch die Zeit eingelassen haben, sind die beschriebenen Objekte nicht, wie etwa im Dehio, nach Themen geordnet, auch das leidige Alphabeth spielt keine Rolle, sondern nach Bezirken respektive Stadtgebieten, die durch farbige Ausschnitte aus dem Wiener Stadtplan veranschaulicht werden. Begonnen wird in den nördlichen Außenbezirken. Nehmen wir als Beispiel Döbling, wo nahezu fünfzig wichtige Häuser entdeckt wurden. Unter der laufenden Nr. 25 ist das von Josef Hoffmann erbaute Haus des Komponisten und Musikgelehrten Egon Wellesz in der Kaasgrabengasse verzeichnet (mit Foto des Künstlers). Darauf folgt als Nr. 26 ein 1935 von dem Architekten Siegfried Drach errichtetes Wohnhaus in der Leopold Steiner-Gasse (mit Ansicht). Nahe von Wellesz wohnte einst der ebenfalls dem Schönberg-Kreis zuzurechnende Komponist Alexander Zemlinksy, den wir auch im Bild sehen (Nr. 27), und schräg gegenüber war von 1933 bis 1938 das Zuhause von Theodor Kramer (Nr. 28). In der Grinzinger Allee (Nr. 30) nächtigte in nicht mehr bestehenden Behelfsbauten als blutjunger Student der späterhin so berühmte Philosoph Karl Popper, dem ein Farbporträt zugesellt ist. In denselben Baracken fanden übrigens auch der Komponist Hanns Eisler und der ungarische Literaturtheoretiker Georg Lukäcs zeitweise Unterkunft. Diese Baracken sind natürlich nicht die einzigen Bauten, die nicht mehr stehen. Manche wurden durch Bomben, andere durch Spekulation zerstört, die Wiener Synagogen hingegen, die in den jeweiligen Bezirken mit genauer Adresse genannt sind, zumeist am 10. November 1938, einem Tag, der keinerlei Erläuterung bedarf. Mit dem Gedenken an diese Synagogen ist die Datumsgrenze der genannten Zeittafeln überschritten. Noch weiter verschoben wird sie durch die Erinnerungsstätten an den Widerstand gegen die Naziherrschaft. Besonders charakteristisch erscheint hier die Seite 107, 11. Bezirk, unseres Stadtführers. Die laufende Nr. 364 nennt das Mahnmal in der Erdbergerstraße 202, das an zweiundvierzig Bedienstete der Wiener Verkehrsbetriebe erinnert, die im Februar 1934 fielen oder als Widerstandskämpfer gegen das NS-Regime ermordet wurden. Gleich darunter ein Mahnmal in der Eyzinggasse für zehn Arbeiter des Wiener Gaswerks, die Opfer des Faschismus wurden, und in der Haidequerstraße der Gedenkstein für Arbeiter des Elektrizitätswerks, die vom Sommer 1938 bis Ende 1943 eine illegale Betriebszelle bildeten, um Angehörige von bereits verhafteten Widerständlern zu unterstützen. Auch diese Helfer wurden letztlich verhaftet und umgebracht. Ja, wir wollen diese Männer und Frauen und ihre Gesinnungsgenossen in anderen Bezirken einmal aufsuchen; sie haben mit bloßen Händen versucht, das zurückschlitternde Rad der Zeit aufzuhalten! Angesichts der von der Monarchie ererbten schändlichen Wohnverhältnisse kam dem Wiener Wohnungs- und Siedlungsbau der Ersten Republik zentrale Bedeutung zu. „Es ist sicher kein Zufall, daß moderne Architekten, daß überhaupt Menschen mit modern gerichteten Plänen und Zielen sich gerade der Siedlungs- und Kleingartenbewegung trotz ihrer vielen kleinbürgerlichen Züge zugewendet haben, die aber durch ihre Grundtendenz zur Großorganisation in durchaus modernem Sinne umgeformt werden“, schrieb Otto Neurath 1923. Der Architekt Adolf Loos hat es gemeinsam mit Margarethe SchütteLihotzky in der Siedlung Friedensstadt (Hermesstraße im 13. Bezirk) schon im Jahr 1921 gewagt. Freilich befindet sich nur mehr eines seiner Häuser im originalen Zustand. Im selben Jahr entstand die Rosenhügelsiedlung der Architekten Mayer und Krause. Auch Josef Frank folgte diesem Konzept in der Siedlung Hoffingergasse im 12. Bezirk. Weltbekannt wurde die 1932 in Hietzing unter seiner Koordination errichtete Werkbundsiedlung, die Entwürfe von in- und ausländischen Architekten in Musterhäusern versammelt. Im Sommer kann man hier täglich photographierende und zeichnende junge Menschen sehen, fast ausschließlich Touristen. Die Einheimischen schütteln über sie irritiert ihre Köpfe. Selbstverständlich führt Volker Thurm auch zu den klassischen Gemeindebauten der Zwischenkriegszeit und zu modellhaften Bauwerken wie dem Favoritner Amalienbad (Architekten Otto Nadel, Karl Schmalhofer) oder dem Arbeitsamt Liesing von Ernst Plischke. Kahren wir nochmals zur künstlerischen Prominenz zurück, und zwar in den 3. Bezirk! In der Löwengasse steht das Geburtshaus Anton von Weberns, nicht weit davon in der Rasumofskygasse wohnte Robert Musil, der im nahen Cafe Zartl verkehrte, in der Ölzeltgasse können wir Jura Soyfer besuchen und in der Neulinggasse den Maler Max Oppenheimer. Welch ein kultureller Überfluß! Und dabei haben wir den 1. Bezirk gemieden, in dem sich alles noch dichter drängte. Auf den Abschnitt der Rundgänge folgt ein nahezu 150 Seiten umfassendes Lesebuch mit historischen und aktuellen Texten, knappen und informativen Ergänzungen zum Gesehenen. Besonders hervorgehoben seien der kurze Aufsatz von Thurm über Volksbildung und Volkshochschulen und die Erläuterungen des Mathematikers Karl Sigmund zur naturwissenschaftlichen Orientierung von Musil, Perutz und Broch. Dazu ältere Originaltexte von Joseph Roth, Hilde Spiel, Käthe Leichter, Dagobert Peche, Oskar Strnad, Hans Tietze und vielen anderen. Daran schließt sich ein Abschnitt mit ausgewählten Kurzbiographien, nunmehr doch alphabetisch gereiht, vom Psychologen Alfred Adler bis zur Architektin Liane Zimbler. Sie sind nützlich, ja unentbehrlich, wenn man sich in der geistigen Landschaft dieser Epoche zurechtfinden will, denn wer hat schon alle wissenswerten Daten über den Mathematiker Hans Hahn, den Dramatiker Ödön von Horvath oder die Physikerin Lise Meitner im Kopf? Genug des Name-Droppings! Es bleibt noch zu melden, daß es sich um ein besonders schönes Buch handelt, trotz seines Umfangs nicht schwer an Gewicht. Man hält es gerne in der Hand. Wer gerade nicht liest, kann die Farbdrucke von Gemälden betrachten, die zwischen die Texte eingestreut sind. Bilder, die zumeist der Stilrichtung der Neuen Sachlichkeit zuzuordnen wären. Besonders fesselnd die Reproduktionen (S. 129) von zwei Arbeiten der Wiener Malerin Erika Giovanna Klien, einer frühen Abstrakten, die an der Wiener Kunstgewerbeschule — wo sonst? — bei F. Cizek studiert hatte und schon 1929 in die Vereinigten Staaten tibersiedelt war. Vorüber, vorbei! Wir können nur die einstigen Wohn- und Wirkungsstätten der „unvollendeten Moderne“ aufsuchen und hoffen, daß etwas von dem kreativen Geist und vor allem Mut dieser Generation in einer künftigen aufersteht. Herta Blaukopf Volker Thurm unter Mitarbeit von Elisabeth Nemeth: Wien und der Wiener Kreis. Orte einer unvollendeten Moderne. Ein Begleitbuch. Wien: Facultas Verlag 2003. 364 S. Euro 25,Mexikoplatz In der geheizten Unterkirche der TrinitarierKirche am Mexikoplatz lasen am 21. November 2003 J.W. Weil, Isabella Gabor u.a. aus der Autobiographie des Holocaust-Uberlebenden Willi Berler. Sonja Frank und Freundinnen stellten kiinstlerische Arbeiten aus. Die Moderatorin Lisa Schiiller erinnerte an den Exilautor Fred Schiller. Die über 150 ZuhörerInnen dankten mit großem, nicht bloß höflichem Applaus. 81