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schenket. Denn obwohl mein Lebtag beruflich für mich selber und andere unentwegt geschrieben habe, wußte ich die ersten Tage gar nicht recht, was zu schreiben ... Nun habe ich die ganze Zeit für das vage Später unser Leben hier beschrieben, die Zellengefährten für Irene abkonterfeit. Aber das erschien mir unzulänglich, um das neue Glück des Schreibens recht auszukosten und breitzudehnen. Das hat mir wie gesagt meine alte Füllfeder angegeben, die Geschichte von Belin und seiner Füllfeder aufzuzeichnen.“ Denn zu Beginn ist dieser Originaltext noch kein Tagebuch: die ersten Seiten tragen weder Datum noch Ortsangabe und sind von des Schriftstellers Hand betitelt als „Die Füllfeder. Eine Erzählung“. Diese einleitende Erzählung, die sich aus der Materialität und dem Symbolgehalt einer Füllfeder ergibt, entwickelt eine narrative Linie, mit der der ganze nachfolgende Tagebuchtext bricht. Dieser stilistische Bruch markiert eine Bewusstwerdung, nämlich jene, die die Zeit des Schreibens in die Zeit des Gefängnisses, also in die Nicht-Zeitlichkeit, einschreibt. Der Bruch zeigt jenen Moment, in dem der Schriftsteller sich des unausweichlichen Schicksals seiner Gefangenschaft bewusst wird. „Halb vier Uhr: Seit 2 Uhr sitzt man herum und wartet auf den Spaziergang, oder darauf, daß man sich rasieren lassen kann ... Also weiter warten! ... Bald wird es acht Monaten sein, daß ich meine Tage auf die gleiche Art mit Warten verbracht habe! Acht Monate in höchst peinlichen Wartezimmern. Ich, der ich wütend wurde, wenn man mich hat zehn Minuten warten lassen ...‘“ schreibt Rheinhardt am Donnerstag, dem 16. Dezember 1943. Am 13. Mai 1943 war Rheinhardt nämlich von Menton ins Gefängnis von Nizza transportiert und dort inhaftiert worden, um von den deutschen Behörden, u.a. der Gestapo, verhört zu werden. Erst nach der Füllfeder-Erzählung setzt im Originaltagebuch die Angabe von präzisen Daten ein. Die Inhalte, über die Rheinhardt im Zeitraum vom Donnerstag, dem 9. Dezember 1943, bis Donnerstag, dem 13. April 1944 mit überraschender Regelmäßigkeit berichtete, sind nicht als Teile einer Erzählung zu werten, sondern als biographische Details seines Alltags in den französischen Gefängnissen. Es sind Dokumente einer genauen Beobachtung und erscheinen mitunter als echte „Ethnographie“ des Gefängnislebens. Der Hunger, der Durst, die körperliche Erschöpfung, die verheerenden hygienischen Zustände, die unerträgliche Promiskuität bilden die Basis des Tagebuches. Diese Aspekte erscheinen wohl in der Turia+Kant-Publikation, auch wenn sich der Stil von dem des Originals deutlich unterscheidet. Wichtige Passagen des Originalmanuskripts kommen jedoch in der Turia+Kant-Publikation überhaupt nicht vor: „Das Gefängnissessen war wie alle Tage nur ein papierdünnes Stück Fleisch, etwa 3x4 cm groß, Gewicht zwischen 20 und 30 Gramm. Das Rote Kreuz hat sich angestrengt und hat jedem walnußgroße grüne Mandarinen austeilen lassen, zwei für jeden. Da ziehe ich noch den schrecklichen je m’en foutisme de la prison vor. Aber wir haben alle drei etwa von zuhause gehabt, gottlob“, schreibt Rheinhardt am Weihnachtstag 1943. Aus diesen Bemerkungen lässt sich beispielsweise die Absurdität der karikativen Hilfeleistung des Roten Kreuzes in Gefängnissen während des Zweiten Weltkrieges ablesen. Auch die antisemitischen Handlungsweisen und Haltungen, die Rheinhardt im französischen Gefängnis erlebt hat, fehlen gänzlich in der Turia+Kant-Publikation. Ein Beispiel dafür ist folgende Tagebuchaufzeichnung: „In Menton ... habe ich unter diesen mehr oder weniger gelehrten Leuten eine einheitliche antisemitische Haltung gemerkt. Und jetzt unter diesen soviel primitiveren Leuten hier wiederholt sich das, nur viel gröber. Sie reden ununterbrochen von Personen - und [stellen] fortwährend die Frage: ‚Est-ce un juif? oder den Zusatz: ‚Ce sale juif!’ ... Und hier wie dort habe ich gehört: ‚Das darf nicht sein, daß nach dem Kriege die Juden die eigentlichen Sieger sein sollten.’“ Ausserdem wird in der Turia+Kant-Publikation weder etwas erwähnt von den Gebeten, die Rheinhardt am Ende jeder Tagebuchnotiz an einen guten und erlösenden Gott richtete, noch von seinen Gedanken zu Heiligen Schrift, wie man sie beispielsweise in dieser Notiz, die er am Weihnachtstag schrieb, findet: „Ich habe Neues Testament gelesen, trotz Widerwillen gegen die moderne Übersetzung (Mühlheimer Ausgabe), mit Freude das Lukas Evangelium, da ich ganz vergessen habe. Wie schlicht und ansprechend ist es in seiner Sachlichkeit. Muß öfter vergleichend Evangelium und Apostelgeschichte lesen.“ Jeglicher Hinweis auf einen heilbringenden Mystizismus wurde somit verschwiegen. Vom Standpunkt eines Historikers sind derartige Weglassungen gravierend. Sie verändern nicht nur die Wahrnehmung, die der Leser von der Gedankenwelt Rheinhardts und seiner Mitgefangenen erhält, sondern sie beeinflussen die Tragweite dieses historischen Zeugnisses aus der Innenwelt der französischen Gefängnissen des Dritten Reiches. Was ist also über dieses Buch zu sagen? Handelt es sich um eine verfälschte Ausgabe? Dies scheint nicht der Fall zu sein, wenn man sich an die Tatsache hält, dass diese posthume Ausgabe Wort für Wort der maschingeschriebenen Version folgt, die in den 1970er Jahren durch Vermittlung von Gerty Wolmut, der ExFrau von Rheinhardt, in das Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (DÖW) nach Wien gelangt war, wie der Herausgeber Martin Krist angibt. Die Briefe und eine von Gerty Wolmut verfasste Rheinhardt-Biographie, die diese Version begleiteten, erlauben es, den Überlieferungsweg dieser Fassung zurückzuverfolgen. Offensichtlich war diese Version das Werk von Erica de Behr, der Lebensgefährtin und Sekretärin Rheinhardts in Le Lavandou. In der Korrespondenz zwischen Gerty Wolmut und Erica de Behr findet sich ein in französischer Sprache verfasster Brief, datiert auf den 16. Juli 1946, der den Autor des Typoskriptes authentifiziert und die so genannte Texttreue zum Original attestiert: „Je n’ai pas traduit le journal de Rheinhardt. Il était écrit mot pour mot, comme je l’ai copie. En Autriche, on va le publier“, schreibt Erica de Behr. Diese Absicht sollte sich erst mehr als ein Vierteljahrhundert später konkretisieren. In diesem Sinne ist die Veröffentlichung dieses Tagebuchs die Wiedergutmachung eines Unrechts, aber sie stellt auch eine vom Standpunkt der Geschichte aus gesehene ernste Frage: Durfte man eine maschingeschriebene Abschrift veröffentlichen, von der die Herausgeber vor der Drucklegung wussten, dass sie nicht vollständig dem Original entsprach, welches gerade gefunden worden war? Ursprünglich hätte man dem Verlag und dem Herausgeber diesen Vorwurf nicht machen können, denn die Information kursierte nur in einer kleinen Gruppe französischer Spezialisten. Allerdings ließ ich sie ihnen im Oktober 2002 noch vor der Drucklegung zukommen, als ich in Wien war, um das Typoskript von Erica de Behr und das Originalmanuskript zu vergleichen. Martin Krist, der Herausgeber dieser Publikation, ist Historiker und kennt deshalb sehr genau die Bedeutung sorgfältiger Quellenkritik bei der Edition von Dokumenten. Wenn seine detaillierte Präsentation des Lebens von Rheinhardt in Wien, größtenteils aus der Biographie von Gerty Wolmut stammend, den Leser minutiös informiert, wird der Kontext völlig ignoriert, in welchem dieses Tagebuch geschrieben wurde, das heißt, die Realität in den Gefängnissen des besetzten Frankreich, welches 1939 Internierungslager für eben jene Ausländer einrichtete, denen der französische Staat 1933 feierlich seinen Schutz versprochen hatte. Diese unentbehrliche Kontextualisierung fehlt. Darüber hinaus fehlt ebenfalls die Kontextualisierung der französischen Nachkriegszeit (Liberation), die zum großen Teil die Auslassungen von Erica de Behr, der ergebenen und treuen Freundin des Schriftstellers, erklärt. Nicht alle Gefangenen waren im Widerstand tätig gewesen, manche waren wegen Schwarzmarkthandel, andere wegen Spionagetätigkeit verhaftet worden. Im Wirbel der Liberation stand es niemandem gut an, solche Informationen zu veröffentlichen. Es war also zweifellos aus der legitimen Sorge heraus, die Mithäftlinge zu schützen, dass Erica de Behr das Original nicht in seiner Gesamtheit abschrieb. Einer anderer Grund scheint emotionaler Natur zu sein: er betrifft die Beziehungen zwischen Rheinhardt und Theodora Meeres, zu der Rheinhardt gleichzeitig eine Liebesverhältnis unterhielt. Wie soll man also die Weigerung des Verlages Turia+Kant interpretieren, das Erscheinen des Tagebuchs, so wie es von Erica de Behr überarbeitet und korrigiert wurde, zu verschieben, wenn nicht aus Marketinggründen? Jenseits der unerwünschten Wirkungen dieser unvollstän85