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Am 4. Dezember 2000 wurde in der Österreichischen Nationalbibliothek in Wien das „Lexikon der österreichischen Exilliteratur“ präsentiert. Nach der Begrüßung durch den Verlagsleiter Dr. Robert Sedlaczek sprachen einleitend der Historiker Wolfgang Neugebauer, wissenschaftlicher Leiter des Dokumentationsarchivs des Österreichischen Widerstandes (DÖW), und der Germanist Wendelin Schmidt-Dengler, u. a. Leiter des Österreichischen Literaturarchivs. Nach ihnen stellten Siglinde Bolbecher und Konstantin Kaiser sich und die Mitautorinnen Evelyn Adunka, Nina Jakl und Ulrike Oedl vor. Ihnen folgten kurze Lesungen von zwei Autoren, die selbst in dem Lexikon verzeichnet sind: Michael Guttenbrunner und Wolfgang Georg Fischer. Ilse Aschner las zum Abschluß Gedichte von Anna Krommer, Herbert Kuhner und Stella Rotenberg. Die gemeinsame Veranstaltung des Franz Deuticke-Verlages, des Österreichischen P.E.N.-Clubs und der Theodor Kramer Gesellschaft war ausgezeichnet besucht. Das Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (DÖW) und ich haben zu diesem heute präsentierten Werk nur einen bescheidenen Beitrag geleistet, insofern wir als der organisatorische Träger eines Forschungsauftrages des Wissenschaftsministeriums fungierten und uns bemühten, die Verfasser in ihrer Arbeit zu fördern. Für uns war diese Unterstützung selbstverständlich, denn Vertreibung und Exil haben in der Tätigkeit des DÖW einen sehr hohen Stellenwert. Rückkehrer aus dem Exil haben entscheidend zum Aufbau des DÖW ab den frühen sechziger Jahren beigetragen; vor allem der in Großbritannien in österreichischen Exilorganisationen führend tätig gewesene Herbert Steiner, Gründer und langjähriger Leiter des DÖW, hat die Exilforschung zu einem Arbeitsgebiet und später zu einem Schwerpunkt der DÖW-Tätigkeit gemacht. Langjähriger Sammel- und Archivierungstätigkeit sind viele Publikationen gefolgt, vor allem die Reihe Österreicher im Exil (mit Bänden über Frankreich, Belgien, Spanien, Großbritannien, USA, Sowjetunion und demnächst über Mexiko) dokumentiert ausführlich die politische Tätigkeit von Exilanten, die vom DÖW als integrierender Bestandteil eines umfassenden Begriffs von Widerstand verstanden wurde. „Viele von ihnen“, stellte Bruno Kreisky im Vorwort zu dieser Reihe fest, „haben durch politische und künstlerische Aktivitäten, viele aber auch mit der Waffe in der Hand - sei es in den alliierten Armeen oder innerhalb der nationalen Resistancebewegungen — zur Befreiung ihrer Heimat beigetragen, eben jenen eigenständigen Beitrag geleistet, der in der Moskauer Deklaration von Österreich gefordert wurde.“ Freilich darf dabei nicht übersehen werden, dass nur ein Teil der ins Ausland geflüchteten Menschen in österreichischen Exilorganisationen erfasst und aktiv war und sich mit Österreich weiter beschäftigte und identifizierte. Die meisten Emigranten, vor allem die aus rassistischen Gründen vertriebenen, wandten sich aus durchaus verständlichen Gründen von Österreich ab, integrierten sich in die neue Heimat und kehrten nach der Befreiung nicht nach Österreich zurück. „Viele von ihnen, vor allem die Jüngeren (mich eingeschlossen)“, schreibt Henry Grunwald im Vorwort 6 zu Österreicher im Exil - USA, „betrachteten sich eigentlich nicht als Exilierte, sondern vielmehr als stolze neue Bürger einer neuen Heimat.“ Die Exilforschung muss daher viele Dimensionen, Facetten und Gesichtspunkte berücksichtigen, was nur durch eine konstruktive Zusammenarbeit von Institutionen, Forschergruppen und Einzelforschern möglich ist. Ich erinnere in diesem Zusammenhang an das von der Dokumentationsstelle für neuere österreichische Literatur und dem DÖW organisierte erste österreichische Exilsymposium 1975, das ursprünglich als 3. für das deutschsprachige Exil geplant war, infolge politischer Querschüsse umfunktioniert und zum Ausgangspunkt verstärkter Forschungen in Österreich wurde. Einen weiteren Markstein der Exilforschung bildete das von Friedrich Stadler 1987 organisierte Symposium „Vertriebene Vernunft“ über die Wissenschaftsemigration, von dem zwei inhalts- und umfangreiche Bände zeugen. Das damit verbundene Datenbankprojekt am Institut für Wissenschaft und Kunst ist ebenso zu erwähnen wie die bio- und bibliographischen Arbeiten zur Exilpublizistik des Instituts für Publizistik. Mir ist es aber ein Bedürfnis, neben den Instituten die engagierten und kompetenten ForscherInnen und Kleingruppen hervorzuheben, im besonderen Siglinde Bolbecher und Konstantin Kaiser. Im Rahmen der Theodor Kramer Gesellschaft haben sie wichtige Publikationen und vor allem die wunderbare Zeitschrift Ziehharmonika, nun Zwischenwelt, herausgebracht. Das Lexikon der österreichischen Exilliteratur ist zweifellos der Höhepunkt ihres fruchtbaren Schaffens. Angesichts kompetenterer Redner an diesem Abend dazu nur eine Bemerkung: Kann man etwas Besseres über ein Lexikon sagen, als dass man es nicht nur zum gelegentlichen Nachschlagen benutzt, sondern mit Interesse darin liest? Ich habe beim ersten Blättern und Nachschauen gar nicht aufhören können: Ich habe Vertrautes gefunden, Menschen, die ich in meiner Arbeit kennen gelernt habe; vor allem aber stößt man auf weniger Bekanntes, auf sehr viel Neues und Interessantes. Vermutlich liegt darin ein besonderer Wert dieses Lexikons: neben den prominenten Exilschriftstellern und -schriftstellerinnen stehen auch sehr viele Literaten, die durch Faschismus und Nationalsozialismus existenziell beeinträchtigt wurden und in Vergessenheit zu geraten drohten. Im Gesamten betrachtet, haben die Verfasser so etwas wie ein literarisches „anderes Österreich“ erstehen lassen - es gab bekanntlich auch ein nazistisches oder zumindest ,,Anschluss“-begeistertes Lager. Mir scheint es wichtiger denn je, dass diese humanen, demokratischen und antifaschistischen Traditionen der österreichischen Kultur erforscht, dokumentiert und dargestellt werden. In der jetzt geführten, leider ziemlich oberflächlichen Opfer-Täter-Diskussion, die durch Eindimensionalitäten und Extrempositionen gekennzeichnet ist, besteht die Gefahr, dass seitens kritischer Publizisten und Politiker die in Widerstand und Exil sich manifestierenden Kräfte, die der Barbarei auch ihr kulturelles Schaffen entgegensetzten, an den Rand gedrängt und bagatellisiert werden. So sehr es notwendig ist, die Involvierung der Österreicher in den Natio