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„Was packten deutsche und österreichische Juden, wenn sie weg mußten, in ihre Koffer? Hauptsächlich Bücher!“ betont Hans Eichner im Gespräch. Den Büchern, unter denen er aufwuchs, ist er treu geblieben, ja hat sie zum Beruf gemacht. Germanisten und Lesern romantischer Poesie ist Hans Eichner als Thomas Mann-Forscher und Mitherausgeber der Kritischen Friedrich Schlegel-Ausgabe (München, Paderborn, Wien 1959-1981) sowie einer sechsbändigen Sammlung der kritischen Schriften und Fragmente von Schlegel (Paderborn, Wien 1988) bekannt. Erstmals ist Eichner nun mit einem Roman an die Öffentlichkeit getreten: der Familien-Saga „Kahn & Engelmann“ (Wien 2000; siehe die Besprechung im Rezensionsteil dieses Heftes). Am 30. Oktober 1921 als Sohn des Geschäftsmanns Alexander Eichner und dessen Frau Valerie in eine assimilierte jüdische Familie, deren Mitglieder allesamt in der Kleider- und Modebranche tätig waren, hineingeboren, wuchs Eichner in der Leopoldstadt mit Wiener assimilierten Juden auf — „und das war ein intellektuelles Treibhaus. Es gab keine Wohnungen ohne Klavier, es wurde überall Musik gemacht, es gab überall Bücher, und es wurde überall über Bücher gesprochen.“ Nach dem Besuch des Sperl-Gymnasiums übersiedelte Eichner im Alter von 14 Jahren in die Lehr- und Versuchsanstalt für chemische Industrie in der Rosensteingasse. Für Politik interessierte er sich nicht: „Man las Rilke, und man war für Beethoven oder Schubert begeistert, die Politik galt als etwas Minderwertiges. Es war minderwertig wie auch jeder Brotberuf, wie alles Praktische.“ Politisch hoffte die Familie, „daß sich das Dollfuß-Regime halten würde. Mit diesem Klerikofaschismus konnte man zur Not leben.“ Der intellektuell ungemein ehrgeizige Siebzehnjährige war davon überzeugt, daß seine Berufung und sein Beruf in der Dichtung liegen müßten, und versuchte sich in Lyrik. Nach dem „Anschluß“ - „Das Gebrüll und Hurrageschrei habe ich noch heute in den Ohren, das vergißt man nicht‘ — flüchtete Eichner im Dezember 1938 mit einem Freund über Deutschland nach Belgien und kam im Februar 1939 nach England, wo er von einer großen jüdischen Firma als Elektriker-Lehrling angestellt wurde. Nach der Anhaltung als „enemy alien“ gerieten Eichner und sein Bruder durch ein Versehen auf ein Schiff mit dem Ziel Australien. Seine australische Internierungszeit von Juli 1940 bis Ende 1942 nützte er zur Vervollkommnung des Englischen, Französischen und Lateinischen. 1943 wieder in Großbritannien, übernahm Eichner eine Stelle in der chemischen Industrie, studierte an der Universität London Germanistik und bewältigte alle Prüfungen von der Matura bis zur Dissertation über „Thomas Mann’s Relation to Goethe and its Signification for His Own Development“ (1949) in nur fünf Jahren. Nach zweijähriger Tätigkeit als Assistant Lecturer am Bedford College in London (1948-1950) wechselte er an die Queen’s University in Kingston, Ontario (erst Assistant, dann Associate und Full Professor), 1967 schließlich an das German Department der Universität Toronto (bis 1988). Seit 1991 lehrt Eichner als Adjunct Professor wieder an der Queen’s University in Kingston. In seinen Forschungen setzte Eichner Schwerpunkte auf Thomas Mann, Goethe, die Romantik und Friedrich Schlegel, 8 in der Lehre war immer die Lyrik sein Lieblingsgebiet. Methodisch sucht er einen ebenso werkimmanenten wie positivistisch-pragmatischen Zugang zur Literatur: „Ich glaube, das ist charakteristisch für mich, daß ich von der Mathematik und von den Naturwissenschaften herkomme. Das gab mir eine gewisse geistige Haltung: Empirik, logischer Positivismus, analytische Philosophie.“ An Kanada, in das sich Eichner nach Anfangsschwierigkeiten richtig „verliebt“ hat, schätzt er die Landschaft, die Menschen, den Umgangston und die sozialen Bedingungen. Im „Exil“ hat sich Hans Eichner nie gefühlt: „Der Terminus ‚Exil‘ trifft auf mich in keiner Weise zu. Ich habe mich auch in England nie im Exil gefühlt.“ Wien, an das ihn nun weder verwandtschaftliche noch freundschaftliche Beziehungen mehr binden, schätzt er für gutes Theater, gute Musik, guten Kaffee und Kuchen und herrliche Torten. Zugleich weiß er, „daß es kaum irgendwo in Mittel- oder Westeuropa so viel Antisemitismus gibt wie in Österreich“. Alle Zitate entnommen aus: „Es sind die Menschen, die Heimat ausmachen.“ Interview von Carla Carnevale mit Hans Eichner am 15. August 1995 in Vancouver. In: Lebenswege und Lektüren. Österreichische NS-Vertriebene in den USA und Kanada. Hg. von Beatrix Müller-Kampel unter Mitarbeit von C. Carnevale. Tübingen 2000, 145-173; Personalbibliographie Hans Eichner, 170-173. (Conditio Judaica. Studien und Quellen zur deutsch-jüdischen Literatur- und Kulturgeschichte. 30).