OCR
Pötzleinsdorf, 18. Juni 1999 Im Khevenhüller Schlößchen werden Spielautomaten des Biedermeier gezeigt. Eine junge Schönheit fragt ihren angeberischen Begleiter: „Stutzuhr — was ist das eigentlich?“ Sagt er: „Das ist, weil sie so herunter gestutzt sind, so auf klein.“ Hat man schon so was gehört? Sage ich nebendran stehend: „Über die hat man gegen das Einstauben Glasstutzen gestülpt.“ Sagt sie: „Ja, das habe ich schon gesehen, aber nicht gewußt, daß das Stutzen heißt.“ Sage ich nichts mehr, denn ich habe es bis zu diesem Augenblick auch nicht gewußt. Aber dem Angeber, dem blödsinnigen, mußte eins drauf gegeben werden. Ich muß zu Hause unbedingt nachsehen, was Stutzuhren sind. Wien, 19. Juni 1999 Auf dem Gehsteig der Friedensbrücke über den Donaukanal begegneten wir einer Taube. Sie hatte Amerikanern die Hand geschüttelt. Seitdem hinkte sie. Im Augarten-Park blieb aus dem Zweiten Weltkrieg einer der gigantischen Beton-,Luftschutz‘-Bunker, die jeder Sprengung wiederstehen. Auf dem Boden davor liegt ein Spielkartenblatt mit zehn schwarzen Kreuzen. Wien, 28. Juni 1999 Gestern im Burgtheater durch Peter Handkes Stück „Die Fahrt im Einbaum ... usw.“ gelernt, was dem Publikum zumutbar gehalten wird von Autor, Regie und Bürgerwelt. Im Balkan gehe es um ‚Nachbar kaputt‘, ein (wohl Fernseh-) Filmkrieg sei’s gewesen, die Journalisten trügen schuld, dazu hübsche Gags wie einen auf dem Pferd einreitenden Texas-Hut-Wohltäter, der Dollarnoten verstreut, philosophisch aufgeputzten Blödsinn übern „herbeigemassakerten Kleinstaat“; alles auf dreieinhalb Stunden gezogen. Kalte Interessen am Aufbrechen des vielvölkerigen Jugoslawiens, Waffengeschäfte, Religionsinteressen von römischer Kirche, Islam und serbisch-orthodoxer Kirche (die als Identifikations-Zentren verwendet werden), über entdecktes Erdöl im Nord-Kosovo, das alles wurde sorgfältig ausgespart. Heraus kommt einer der Pseudoproteste gegen das „Böse“ - in Deutschland liefert das Bodo Strauß, in England Stoppard, in Frankreich — weiß ich nicht. Wird auch dort einen solchen pisseur d’enore geben. Dieses hohlköpfige Durcheinander wurde durchaus beifällig von jungen Leuten aufgenommen, die mir sagten, „der Konflikt sei gut herausgearbeitet“ und „man müsse alles nochmal sehen, weil man in der Mitte schläfrig wurde“. Keine Bange, es wird Wiederholungen geben — von solchen Stücken und von solchen Kriegen. Und weitere Gelegenheit zum Dämmerschlaf inmitten der Ungeheuerlichkeiten der Gegenwart. Handke wurde für sein bißchen Herumversuchen an der Wahrheit übrigens von den Kritikern als „Serbenfreund“ streng gerügt. Wien, 24. November 1999 Ich unterhalte mich mit dem Mann von der Würstlbude. „Die ganze Gegend riecht hier nach Ihrer heißen Wurst“, sage ich. „Und erst hierinnen“, sagt er. „Ich leb ja davon, daß ich den ganzen Tag bis in die Nacht Wurst heiß mache.“ „Sie selbst riechen doch bestimmt auch nach Wurst?“ Als er bestätigend nickt, sage ich: „Haben Sie denn keine Angst einmal aufgegessen zu werden?“ Er zeigt auf einen zu seinen Füßen liegenden Schäferhund: „Dafür sorgt der, daß das nicht passiert!“ „Riecht der Hund nicht auch nach Wurst?“ „Freilich“, sagt der Besitzer des Tiers. „Nach was denn sonst soll er denn riechen?“ „Und wenn man nun Ihren Hund aufißt?“ „Nein, nein“, antwortet der Würstlbudiker. „Es kommt ganz selten vor, daß zwei gleichzeitig das selbe Schicksal trifft.“ In solche Tiefe wollte ich die Unterhaltung nicht führen. Hätte besser mit ihm über Senfgurken reden sollen. Wien, Rathausplatz, 19. Dezember 1999 Eine Laufmasche rennt den Menschen zwischen den Beinen durch den Christkindlmarkt. Sie suche jemand zum Aufnehmen, zum Aufnehmen, ruft sie, aber natürlich kann keiner sie hören, weil der Glühwein zu laut gluckert. Eine angebissene Debreziner nimmt sich ihrer schließlich an. Doch da diese im Dreck am Boden lag, rümpft die Laufmasche die Nase: Mit Dir hab ich’s nicht nötig. Als dann die Buden geschlossen, die Lichter gelöscht werden, setzt sich die Laufmasche aufeine Bank und schläft ein. Es beginnt Schnee zu fallen, der deckt sie zu. Es gibt viele Weihnachtsmärchen, warum nicht auch dieses? Wir danken dem Verlag Marsilius, Speyer, für die freundliche Abdruckgenehmigung. Die Zitate sind entnommen dem von Arno Reinfrank und dem Zeichner und Maler Klaus Fresenius verfaßten bzw. gestalteten 1000seitigen Buch: Fin de Siecle — die letzten 1000 Tage. Ein Tagebuchprojekt. (Erschien nur im limitierter und signierter Auflage zum Preis von DM 1.800,—).