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Sie starb in Not und Elend am letzten Oktobertag des Jahres 1943, ein halbes Jahr nach ihrem zweiundachizigsten Geburtstag. Der Trauring an der Hand der Toten war nicht aus Gold, sondern aus Eisen. Das „Gold gab sie für Eisen“, um Österreich im ersten Weltkrieg zu helfen. Das Thema ‚Assimilation‘ zieht sich wie ein roter Faden durch Clares Buch. Sein Urgroßvater Hermann Klaar, als Sohn eines orthodox-jüdischen Weinhändlers 1816 im ostgalizischen Stanislau geboren, studierte in Wien und Krakau Medizin und brachte es — ohne zu konvertieren - in der österreichischen Armee zum Regimentsarzt im Offiziersrang. Nach der Teilnahme an der Schlacht von Solferino und seiner Ausmusterung, kehrte er nicht mehr nach Czernowitz zurück, wo er sich niedergelassen hatte, sondern eröffnete eine Praxis in Wien. Und weil Hermann Klaar die Möglichkeit zu diesem Sprung hatte und ihn auch schaffte, ist er in vieler Hinsicht die Schlüsselfigur in unserer Familiengeschichte. Er war der erste Klaar, der westliche Züge annahm, der erste, der sich völlig anglich, und zweifellos auch der erste, der dem tragischen Irrtum verfiel zu glauben, trotz seiner Zugehörigkeit zu einer Minderheitsreligion ganz und gar Österreicher zu sein, der sich in nichts von anderen Österreichern unterschied. Auch sein ältester Sohn sollte Ludwig heißen, ebenfalls Arzt werden und die gleichfalls aus der Bukowina zugezogenen Juchewed-Julcze heiraten, die sich fortan Julie nennen würde. Es war ein Zeitalter, in dem Dauerhaftigkeit mit Stabilität verwechselt wurde. Es ließ die Familie Klaar glauben, Gleiche unter Gleichen zu sein — ungeachtet ihrer Religion und ihrer Herkunft. Wie unterschiedlich der Grad der Assimilation selbst innerhalb des Wiener jüdischen Bürgertums sein konnte, verdeutlicht die Heirat von Georgs Eltern: Ernst, Sohn des Ludwig und der Julie Klaar, und Ernestine, genannt Stella, aus dem Hause Schapira. Obwohl die Klaars wie die Schapiras Juden waren und derselben sozialen Schicht angehörten, vereinigte die Heirat zwischen Ernst und Stella zwei verschiedene Elemente österreichischen Judentums. Die Klaars waren Österreicher jüdischen Glaubens, während die Schapiras Juden waren, die in Österreich lebten. Daß Stellas Vater, Börsenrat und Präsidiumsmitglied der Wiener Kaufmannschafts-Innung nicht jüdisch aussah, änderte daran nichts. Auch nicht die Tatsache, daß er fast der gleiche Familientyrann war wie Ludwig. Die Atmosphäre in der Wohnung meiner Großmutter Adele trug den Stempel ihrer Persönlichkeit, und die war galizisch-jüdisch. Ganz anders Großmutter Julie: Die Bukowiner Juden waren weltlicher und gebildeter im sükularen Sinne als ihre Brüder in Galizien. (...) Julie habe ich als intelligente und gebildete alte Dame in Erinnerung, Adele hingegen als eher beschränkte und jammernde Person. Wahrscheinlich bin ich der alten Dame gegenüber nicht fair. Meine Erinnerung an sie ist vermutlich durch den dauerhaften Eindruck bestimmt, daß Adele diejenige war, die in Benehmen und Sprache, unterstrichen durch nichtendenwollende Seufzer, ganz dem Bild einer osteuropäischen Jüdin entsprach, während Julies Auftreten und Sprechweise gänzlich dem Westen angepaßt waren, sie zu einer typischen Wiener Dame machten. (...) Der eigentliche Grund, weshalb ich Julie soviel lieber hat te als Adele, ist genau in diesem Unterschied zwischen den beiden Frauen zu suchen. In Wien geborene Juden, und ich war bereits ein Wiener der zweiten Generation, empfanden eine gewisse Abneigung gegenüber den weniger assimilierten Juden aus dem Osten. Wir waren, oder glaubten wenigstens zu sein, so ganz anders als diese bärtige, kaftangewandete Gesellschaft. Wir waren nicht bloß Österreicher, wir waren Deutsch-Österreicher! Kein Wunder, daß ich den jiddischen Singsang ablehnte, in dem Adele deutsch sprach, mit einem ‚Joich‘-Seufzer am Beginn und am Ende fast jeden Satzes. (...) Jahrelang grämte ich mich als Junge über die Tatsache, daß meine Mutter in Polen, wenn auch im österreichischen Teil, geboren war ... Als Georg seinen Vater eines Tages unvermittelt mit dem Wort ‚Tate‘ anspricht, und sich dafür augenblicklich eine saftige Ohrfeige und die geharnischte Zurechtweisung einhandelt, ihn ja nie wieder mit diesem jiddischen Ausdruck für ‚Vater‘ anzureden, wird das ganze Dilemma der Assimilation offensichtlich. Wir, die Klaars, gehörten zu den weltlichen Juden mit westeuropäischer Erziehung und Kultur. Wir trugen gute Kleidung, hatten selbst zu Titeln und Würden Zugang, besaßen Einfluß und Wohlstand. Wir waren aber auch unsicher und ängstlich, weil wir wußten, daß die Mehrheit, die ‚Gojim‘, glaubten, das alles sei nur Fassade. Sie machten im Grunde keinen wirklichen Unterschied zwischen den kaftantragenden, Jiddisch sprechenden Juden mit ihren langen, flatternden Schläfenlocken und dem eleganten Juden (ä la Klaar) in den Wiener Kaffeehäusern. Aber diese merkwürdigen, fremdartigen Geschöpfe aus dem Osten besaßen etwas, was uns, ihren Enkeln und Urenkeln, längst tief verwurzelt in deutscher Kultur, verlorengegangen war. Sie hatten die starke religiöse Überzeugung, sie hatten ihren Glauben. Ihr Gott lebte. 11