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Die schnelle und unbedachte Reaktion meines Vaters, als ich ihn „Tate“ nannte, entsprang der Furcht, für ‚einen von denen‘ gehalten zu werden. (...) Allein ihre Existenz war für die westlichen, angepaßten Juden ein Bedrohung ihres Status. Und wenn sie, sei es auch nur durch das Wort „Tate“ daran erinnert wurden, daß sie zum selben Volk wie diese da gehörten, schlugen sie verzweifelt um sich — wie Vater ... (...) Die Klaars und die Schapiras repräsentierten zwei unterschiedliche jüdische Welten, die schließlich doch wieder eins wurden — hinter den Toren von Auschwitz. Georg durchlebte eine behütete Kindheit und Jugend in gutbürgerlichem Ambiente. Die Stellung seines Vaters als leitender Angestellter der Österreichischen Länderbank, die sich in französischem Besitz befand, ermöglichte der Familie auch in Zeiten der Wirtschaftskrise ein Leben in einem Wohlstand, der regelmäßige finanzielle Zuwendungen an ärmere Familienmitglieder ebenso ermöglichte wie Urlaubsreisen und die kontinuierliche Erweiterung der väterlichen Bildersammlung. Man war nicht allzu sehr politisch interessiert, doch war die Präferenz eindeutig: Wir waren natürlich alle Sozialdemokraten. Für welche andere Partei sollte ein Jude auch stimmen? Die Sozialdemokraten waren, zumindest offiziell, nicht antisemitisch, und viele ihrer Spitzenfunktionäre waren Juden. Vor allem aber war man ‚österreichisch‘, sodaß sich Georgs Vater nach 1934 auch ohne größere Probleme mit Dollfuß’ Bewegung abfinden konnte. Vater nahm gegenüber Dollfuß’ Österreich eine etwas ambivalente Haltung ein. Obwohl er bei jeder Wahl für die Sozialdemokraten gestimmt hatte, war er in Wirklichkeit ein altmodischer Liberaler. Dollfuß beeindruckte ihn als ein Mann, der den Mut hatte, zu seinen Überzeugungen zu stehen, der an Österreich und die Unabhängigkeit des Landes glaubte und zudem einen Staat schaffen wollte, der zumindest an der Oberfläche Ähnlichkeiten mit dem Habsburger Österreich aufwies, in dem Vater aufgewachsen war. Vor allem aber hatte der winzige Kanzler im Unterschied zu seinen Vorgängern den Mut, die Nazi-Partei zu verbieten. Wenn man nicht gerade ein politischer Aktivist war, konnte man unter „Millimetternich“ ungestört sein eigenes Leben führen. Hitler wurde anfangs nicht ernst genommen. Später, nach der Ermordung von Dollfuß, als der deutsche Druck auf Österreich immer stärker wurde, versuchten auch die Klaars ihre Besorgnis durch ‚Hurra-Patriotismus‘ zu übertönen. Als der siebzehnjährige Georg im Februar 1938 einen Ball im Konzerthaus besuchte, auf dem er seinen ‚letzten Walzer in Wien‘ tanzen sollte, jubelten die Ballgäste dem anwesenden Bundeskanzler Schuschnigg zu: Wieviel von der Begeisterung, die ihm im Konzerthaus entgegenbrandete, war wirklich der Ausdruck des Vertrauens zu ihm? Waren die Hochrufe der Menge - unter ihnen auch Juden — nicht mehr ein frommer Selbstbetrug? Der Versuch, eigene Ängste und Unruhe im Jubel zu ertränken? Das Scheitern Schuschniggs und den Anschluß erlebte Georg mit seinen Eltern zu Hause. Schlagartig wurden sie und Hunderttausende Österreicher mit ihnen zu Entrechteten und Verfolgten. Es waren Menschen wie Georg Klaar, die den eruptiven Ausbruch des Antisemitismus ihrer Landsleute am eigenen Leib erfahren mußten: Endlich konnte der Judenhaß der österreichischen Antise12 miten vom Abstrakten zum Konkreten übergehen. Er fand in primitivem Sadismus seinen Ausdruck. Juden -— Männer, Frauen und Kinder, Alte und Kranke ebenso wie Junge und Gesunde wurden zusammengetrieben und gezwungen, umgeben vom Jubelnden und schreienden Mob, in den Straßen niedrige, erniedrigende Arbeiten zu verrichten. Wien war eine „Stadt der Raserei und der Angst“ wie die TIMES damals schrieb. Der Angst war der Jude Georg quasi ‚von Natur aus‘ verfallen. Es zeichnet Clares Erinnerunngen aus, daß er sich selbst in diesem heiklen Punkt seiner damaligen Gefühle nicht schämt und sich nicht scheut einzugestehen, daß er sich auch der Raserei nicht völlig entziehen konnte: Hätte ich nicht, wäre ich nicht als Jude geboren worden, mit siebzehn selbst ein Nazi sein können? (...) Hätte mich die Macht und die Herrlichkeit von Hitlers Reich nicht beeindruckt und angezogen? Und als die deutschen Truppen am 13. März durch die Währinger Straße an ihm vorbei marschierten, überkamen ihn ähnliche Gedanken: So geprägt war ich durch meine österreichisch-deutsche Erziehung von Kindesbeinen an, so tief verwurzelt war alles, was ich gelesen hatte, daß ich in diesen so sauber und sympathisch wirkenden jungen Männern einfach keine Feinde sehen konnte. Die Nazis, die SS, die SA - sie waren meine Feinde, aber diese jungen stattlichen Soldaten der Wehrmacht doch nicht! Georg war sich der Gefahr sehr wohl bewußt. Es war klar geworden, daß die Familie das Land verlassen mußte, klar war aber auch, daß Großmutter Julie würde zurückbleiben müssen. Dieser Umstand und der Verlust der gesamten, mühsam aufgebauten Existenz und seiner österreichischen Identität machten Georgs Vater zum gebrochenen Mann. Nachdem alle Vorbereitungen für die Auswanderung getroffen worden waren, verließ die Familie Klaar im August 1938 Wien in Richtung Berlin, wo Visa für Irland bereitliegen sollten. Deren Ausstellung verzögerte sich allerdings. Nach einem mißlungenen Versuch Georgs, nach Lettland zu gelangen, fand sich die Familie in der mißlichen Lage wieder, nach Wien zurückkehren zu müssen, um neue, nunmehr deutsche Pässe mit dem ‚J‘-Stempel zu lösen. Schließlich gelang die Ausreise über Berlin. Georgs Vater fuhr nach Paris, wo ihm die Mutterbank seines früheren Arbeitsgebers eine Stelle anbot. Georg und seine Mutter hingegen verließen Berlin zwei Tage nach der ‚Reichskristallnacht‘ Richtung Irland, mit einem Aufenthalt in London: Wie sollich die ungestüme, freudige Erleichterung in Worte fassen, die ich darüber empfand, nach so vielen Fehlstarts nun doch aus Deutschland heraus gekommen zu sein? Wie soll ich erklären, daß ich zwar wußte, aber dennoch nicht fassen konnte, daß es diesen Menschen rings um mich her völlig egal war, ob ich eine Stups- oder Hakennase besaß, ob sie in diese oder Jene Richtung gebogen war, ob ich rote, gelbe, grüne oder gestreifte Augen hatte, daß es diese englischen Menschen überhaupt nicht kümmerte, was ich dachte oder sagte? Wie sollich erklären, daß ich wußte, aber doch nicht recht begriff, daß wir endlich in Sicherheit waren, daß uns hier niemand verfolgen würde — und doch spähte ich unwillkürlich zur Tür, als könnten jeden Augenblick ein paar gestiefelte Männer in braunen oder schwarzen Uniformen hereingestürmt kommen. Wie soll ich erklären, daß ich berauscht war vom englischen Tee, daß mich die winzigen Gurkensandwiches auf einen glückseli