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Partei Österreichs nah und hatte es sich unter anderem zur Aufgabe gemacht, Emigranten aus dem nationalsozialistischen Deutschland zu helfen.? Im März 1939 emigrierte die Wiener Dramatikerin zunächst nach Großbritannien. Dabei wurde sie von der Organisation „Gildemeester“, die in Wien eine Auswanderungshilfsaktion fiir als Juden verfolgte Christen ins Leben gerufen hatte, unterstiitzt und fand die meiste Zeit bei einer Familie in Bristol Unterkunft. Oswald Rossi hatte Osterreich bereits im Dezember 1938 verlassen und war in die USA emigriert. Nachdem er eine Stelle als Dozent fiir moderne Sprachen am Hobart College, New York, angenommen hatte, ließ er seine Frau im Sommer 1939 nachkommen. Das Ehepaar lebte ab 1940 in Geneva, New York. Dort bemühte sich Hedwig Rossi zunächst um eine Lehrtätigkeit im Theaterfach an der dortigen Highschool. Daneben begann sie, ihre Stücke zu übersetzen und für das amerikanische Theater zu adaptieren. Ein Brief an ihre Schwester Gerti Zentner verrät, wie stark sie neben ihrer künstlerischen Arbeit mit der Organisation des veränderten täglichen Lebens zu Beginn des Exils beschäftigt war: „Denn ich habe auch viel zu tun — mein Kopf muß jetzt auf verschiedenen Gleisen laufen: Haushalt, Übersetzungen, College-Leben, an dem man teilnehmen soll, gesellschaftliche Verpflichtungen, die in einer Kleinstadt unerläßlich sind und die Sorgen um unsere Lieben.“!® Rossis Vater starb im Juli 1940 nach längerer Krankheit in Wien, ihr Bruder Gustav überlebte den Zweiten Weltkrieg in der österreichischen Hauptstadt. Schwester Gerti wohnte inzwischen in Cambridge, wo sie als Haushaltshilfe und Näherin arbeitete. Rossi selbst hatte sich sehr dafür eingesetzt, daß Gerti nach England emigrieren konnte. Die Schriftstellerin war nicht, wie viele ihrer Kolleginnen, gezwungen, für den Lebensunterhalt der Familie zu sorgen und deshalb ihre künstlerische Arbeit aufzugeben. Doch obwohl ihr Mann bereits zu Anfang des Exils eine feste Anstellung an der Universität hatte, waren die Eheleute zeitweise auf einen zusätzlichen Verdienst angewiesen. Hedwig Rossi mußte immer wieder Wege finden, Schreiben und Broterwerb miteinander zu vereinbaren. Weil sie weiterhin künstlerisch arbeiten wollte, war sie aber auch vom regelmäßigen Verdienst ihres Mannes abhängig. Ortswechsel, die sich nach der jeweiligen Arbeitsstelle richteten, waren daher unumgänglich. Als Oswald Rossi seine Stelle in Hobart 1943 verlor, zog das Ehepaar für zwei Jahre nach Baltimore, wo ihr Sohn inzwischen lebte. Dort produzierte Rossi einige ihrer Stücke für den Playshop der Johns Hopkins University. 1946 erhielten beide Rossis Lehraufträge am Ferris State College in Big Rapids, Michigan. Oswald Rossi lehrte dort Spanisch und Psychologie, sie dramatische Rede, Deutsch und Literatur. Wenig später gründete Hedwig Rossi das Ferris Little Theatre, später Ferris Playhouse, wo sie viele ihrer Theaterstücke produzierte. Als erstes eigenes Schauspiel brachte sie dort Vienna Legend, die Übersetzung von Legende am Donaukanal heraus. Es war bereits 1934 entstanden und sollte im Studio des Wiener Theaters in der Josefstadt aufgeführt werden, was aber nicht mehr realisiert werden konnte. Legende am Donaukanal wurde trotz Lokalkolorit und sprachlicher Feinheiten, die in der englischen Übersetzung auf der Strecke bleiben mußten, eines von Rossis meistgespielten Stücken im Exil. Oswald Rossi beschreibt die ungewöhnliche „Karriere“ wie folgt: „Die Legende am Donaukanal hat bereits eine ganze Geschichte. Das Stück wurde in Pasadena, California, und in Baltimore, 16 Maryland, aufgeführt, sowie in London und Birmingham. Dazu kommen zahlreiche Aufführungen an amerikanischen Universitäts- und College-Theatern. ... Dass ein Spiel aus der Alten Welt, noch dazu eines mit starkem wienerischen Einschlag, ein Publikum in der Neuen so ansprechen kann, ist sicherlich ein Prüftstein seines politischen Wertes.“!! Anders als Der Fall Calas nimmt Legende am Donaukanal keinen historischen Stoff auf. Rossi setzt hier vielmehr die traditionsreiche Form des Volksstücks ein, um verdeckt auf gesellschaftliche Zustände der 1930er Jahren aufmerksam zu machen. Die Dialoge deuten Wiener Mundart an, enthalten wienerische Aussprüche und Lieder. Das Stück erzählt vom Leben einfacher Leute, die in der Gegend am Donaukanal ein Dasein am Existenzminimum führen. Die meisten von ihnen sind arbeitslos. Trotz ihrer unbefriedigenden Lebenssituation verharren sie in ihren Positionen, scheinen wie gelähmt und träumen von besseren Zeiten. Sie wünschen sich einen Heiligen, einen Schutzpatron — einen Gott für kleine Leute: „Manchmal schaut’s grad so aus, als ob unser Herrgott rein auf uns vergessen hätt. Ja, grad so schaut’s manchmal aus. Wir wohnen auch ein bisserl aus’m Weg von ihm, hier unten am Kanal, das ist das Malheur.“!? Tuck, ein vagabundierende Lebenskünstler, der plötzlich auftaucht und für eine Weile in das Leben der Gruppe tritt, entlarvt den falsche Seelenfrieden. Durch ihn wird jeder einzelne auf seine Wünsche, Talente und Schwächen aufmerksam und findet zu sich selbst. Nachdem der Fremdling sich überzeugt hat, daß alle erreicht haben, was sie sich wünschten, verschwindet er für immer im Nebel. Immer auf Wanderschaft, ohne festen Wohnsitz, dauerhafte Beziehungen, Arbeit und Papiere kann Tuck auch als Prototyp des Exilanten verstanden werden. Mit Beginn der NS-Herrschaft 1933 setzte eine Fluchtwelle aus Deutschland ein; die Menschen suchten zunächst in den europäischen Nachbarländern, besonders auch in Österreich, Schutz und Arbeitsmöglichkeiten. Die Form des Volksstücks war für Rossi eine Möglichkeit der Tarnung, um den politisch nicht wenig brisanten Stoff wirkungsvoll zu verpacken. So konnte das Stück nach außen hin als unverfänglich gelten. Auch der Titel Legende am Donaukanal legt diesen Gedanken nahe. Weist er doch explizit darauf hin, daß der Wahrheitsgehalt des folgenden Stückes nicht gesichert ist. Der Erfolg in den USA ist sicherlich ebenfalls auf den Doppelcharakter des Stückes zurückzuführen, das einerseits ein humorvolles und unterhaltsames Volksstück ist, im Zeitbezug jedoch eine tiefere Bedeutung erhält. Nach 1956 gingen die Rossis nach South Nyack, New York, um in der Nähe ihres Sohnes zu leben. In dieser Zeit widmete sich Rossi nahezu gänzlich dem Schreiben und gab Kurse in „Creative Writing“. Nach dem Tod ihres Mannes 1978 begann Rossi mit dem Schreiben eines umfangreichen Romans in zwei für sich abgeschlossenen Teilen, der bisher nicht veröffentlicht wurde. Beide Teile sind interessant, weil sie einerseits stark autobiographisch geprägt sind und Hinweise auf Rossis Leben und Selbstverständnis geben. Andererseits sind es ungewöhnlich umfassende Beispiele für den weiblichen Exilroman, die den Wandel des weiblichen Rollenverständnisses nicht als homogene Entwicklung, sondern vielmehr als ständiges Hin und Her zwischen Abhängigkeit und Selbständigkeit zeigen. Erzählt wird die Liebes- und Lebensgeschichte des Ehepaars Sybil und Robert Gersuni. Der erste Roman Consummation of a Marriage schildert das Leben in Wien bis 1938, die Emigration