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vor Erschöpfung zusammenbreche! Die Frauen links und rechts von mir wurden schon zweimal ausgewechselt. Ich weiß nicht, ob sie gestorben oder über den Ladoga See aus der belagerten Stadt evakuiert worden sind. Die Wehrmacht hat die Stadt fast zur Gänze eingekreist. Nur ein Korridor über den See ist noch offen. Wann werde ich evakuiert? Jene, die es über das Eis in Lastwagen durch das Sperrfeuer der deutschen Artillerie auf die andere Seite schaffen, werden in sichere Regionen des Ostens gebracht, wo sie zu essen haben und keine Bomben fallen. „Straße des Lebens“ nennt man die Trasse, die man über den See freigeschaufelt hat. Viele liegen unter dem Eis. Auf der anderen Seite werde Brot mit Büchsenfleisch verabreicht, erzählt man. Wer das zu hastig in sich hineinstopfe, sterbe unter Krämpfen. Sich noch ein einziges Mal sattessen und krepieren sei besser als auf Raten verhungern, sagt man in der belagerten Stadt. Meine Kinder warten in der eisigen Kälte auf mich. Ich habe einer alten Frau aus der Nachbarwohnung meinen Ehering und den Schmuck gegeben, den mir meine Mutter geschenkt hat, als ich nach Leningrad übersiedelt bin. Dafür paßt die alte Frau auf meine Kinder auf, wenn ich in der Fabrik bin. Sie kennt einen Beamten aus der Lebensmittelverwaltung, bei dem sie den Schmuck gegen Brot, Kondensmilch und Buchweizenkörner eintauschen kann. Davon gibt sie uns etwas ab. Sie kann es sich leisten, großzügig zu sein. Ihr Sohn ist Matrose auf einem der Kriegsschiffe, die im Leningrader Hafen vor Anker liegen und den deutschen Seestreitkräften die Einfahrt sperren. Als Angehöriger der Marine bekommt er fünfhundert Gramm Brot pro Tag und läßt seiner Mutter regelmäßig etwas zukommen. Der Mann aus der Lebensmittelverwaltung, sagt mir die Nachbarin, habe ihr erzählt, sein Chef mache eine Abmagerungskur, um in diesen Zeiten durch sein Äußeres nicht den Haß der Bevölkerung auf sich zu ziehen. Eine eigene Bäckerei stelle für höhere Parteifunktionäre Süßigkeiten nach Wiener Rezepten her. Ende November ist der Vater meines Nachbarn Koronikidse gestorben. Zuvor hat er noch seinen Kanarienvogel aufgegessen. Einige Kilometer weiter südlich warten die deutschen Truppen, bis wir alle verhungert sind. Hitler möchte Leningrad dem Erdboden gleichmachen. Die Newa soll Grenzfluß zwischen Deutschland und Finnland werden. Das „Bevölkerungsproblem“ löse sich durch den Hunger von selbst, meinen die Deutschen. Im Herbst haben sie die Lebensmittellager der Stadt zerbombt. Jetzt kochen wir Lederriemen und Schuhsohlen. Es ist unglaublich, was man alles essen kann. Täglich werden wir von deutscher Artillerie beschossen oder aus der Luft bombardiert. Ich bin Mitglied der Brandschutzgruppe unseres Hauses. Die Brandbomben durchschlagen das Dach. Es ist mir gelungen, einige von ihnen auf dem Dachboden zu löschen. Dafür hat man mir die Verleihung einer Medaille in Aussicht gestellt. Wenn ich sterbe, erhalte ich sie posthum. Sollte eines der großkalibrigen Geschoße unser Haus treffen, haben wir keine Chance. Doch bei Fliegeralarm gehen meine Kinder nicht mehr in den Keller. Ich erinnere mich, wie es viermal Alarm an einem Tag und dreimal in der darauffolgenden Nacht gegeben hat. Kostik ist zu schwach, um jedes Mal hinunter und dann wieder hinauf zu gehen, und Schelja hat keine Angst mehr vor dem Heulen der Sirenen und den Explosionen in der Nachbarschaft. Sie ist fünf Jahre alt. Für sie dauert der Krieg schon ewig. Daß Menschen getötet werden oder auf der Straße umfallen, gehört zum menschlichen Dasein. Schelja ist vernünftig. „Wenn du und Kostik gestorben seid“, erklärt sie mir, „gehe ich hinaus auf die Straße, gehe solange, bis ich einen Milizionär finde und sage ihm: Onkel Milizionär, meine Mutter und mein Bruder sind schon verhungert. Bitte bring mich in ein Waisenhaus.“ Meine Tochter erklärt mir außerdem, daß sie keine Jüdin sei. „Du bist eine Jüdin, Mama, Kostik auch. Ich nicht! Ich bin Russin.“ Ob die Deutschen ihr das wohl glauben, wenn sie die Stadt erobern? Aber sie werden Leningrad nicht erobern! Im Hafen liegt unsere Flotte. Die Rote Armee hat einen Verteidigungsring um Leningrad gezogen, Panzergräben ausgehoben, Steilhänge und Bunker errichtet und Stacheldraht gelegt. Die finnischen Truppen, Verbündete der Wehrmacht, die den Ring vom Norden her schließen sollten, haben ihre Offensive eingestellt. Die strategisch wichtigen Objekte sind gut getarnt. Man läßt auch Heißluftballons aufsteigen, um die feindlichen Flugzeuge am Zielanflug zu hindern. Nur den Hunger kann man nicht verbergen. Schelja spielt draußen im Hof. Wenn sie die Treppe hinuntersteigt, muß sie sich an den schmiedeeisernen Stäben des Geländers festhalten. So dünn sind ihre Arme. Vorsichtig nimmt sie eine Stufe nach der anderen. Auf jedem Treppenabsatz macht sie eine Pause. Es wundert mich, daß sie überhaupt spielen möchte. Trotz der Kälte verbringt sie viel Zeit mit Gleichaltrigen im Hof. Manchmal lacht sie sogar. Kostik geht schon seit Tagen nicht mehr aus dem Haus. Seine Schule ist zerbombt worden. Es geschah in den Morgenstunden, als er auf dem Weg zum Unterricht war. Eine Granate zerriß vor seinen Augen einen Klassenkameraden. Die verkohlten Leichenstücke lagen um den trichterförmigen Krater herum, den die Granate in den Asphalt gerissen hatte. Im Inneren des Kraters brannte die Schultasche des getöteten Kindes. Papierfetzen und Reste von Kleidungsstücken fielen Kostik vor die Füße. Wie durch ein Wunder ist er unverletzt geblieben. Aber seit diesem Ereignis weigert er sich, die Wohnung zu verlassen. „Wenn wir getötet werden, dann lieber zu Hause“, sagt er. Er liegt angezogen im Bett, mit der Decke bis zum Kinn. Die Augen riesengroß im abgemagerten Gesicht. Die Augenlider bewegen sich wie in Zeitlupe auf und ab. Tausend Jahre ist er alt. Manchmal lese ich ihm am Abend etwas vor. Puschkins Die Tochter des Kapitäns, Eugen Onegin oder Lermontows Ein Held unserer Zeit, sogar Tolstojs Krieg und Frieden, aber nicht die Kapitel über den Krieg, nur die über den Frieden. Manchmal bin ich zu schwach, um zu sprechen. Dann flüstere ich oder bewege einfach die Lippen. Kostik ist mir nicht böse. Er sieht mich trotzdem aufmerksam mit großen Augen in seinem alters- und geschlechtslosen Gesicht an. Ich weiß nicht, ob er diese Bücher mit seinen zehn Jahren schon verstehen kann, aber er verlangt immer wieder nach diesen Geschichten, gerade nach diesen, weil sie im achtzehnten Jahrhundert spielen oder im fernen Kaukasus oder in mondänen Salons, wo alle Französisch sprechen. Menschen am Fluß. Von der Weite wirken die Menschen im fahlen Licht wie Dohlen auf dem Eis, die sich um Brotkrümel streiten. Sie kreisen um eine Stelle und stoßen schrille Schreie aus und drängen gierig vorwärts. Auf ausgetreten Pfaden stapfen sie durch den Schnee auf dem Eis. Etwas zwanzig Meter vom Ufer entfernt, wo der Fluß tief genug ist, wurde ein Loch ins Eis geschlagen. Die Menschen streiten sich, wer als erster 27