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mit seinem Kübel an der Reihe ist. Von der Weite wirkt das Wasser schwarz wie Tinte. Jede zusätzliche Minute des Wartens in der Kälte kann den Tod bedeuten. Jemand fällt um und wird übers Eis geschoben wie ein Stück Holz, oder er bleibt einfach liegen, die Hand im Wasser, von der die Strömung den Fäustling weggeschwemmt hat. Wenn er am Abend geholt wird, brechen die vereisten Finger ab. Die Menschen stellen die Eimer auf Kinderschlitten, die sie ächzend die Rampe zum Kai hinaufziehen. Wenn die Sonne durch die Wolkendecke bricht, glänzen die kleinen Eiszapfen an Mundwinkeln und Kinn, wirken die mageren, abgezehrten Gesichter noch blasser. Später fährt ein Lastwagen durch die Straßen und sammelt jene ein, die auf dem Weg zusammengebrochen sind. Der Mann ist ein Greis oder noch ein halbes Kind. Ich weiß nur, daß er nicht einmal Stiefel angehabt hat - vielleicht hat er sie gegen Eßbares eingetauscht —, nur Schuhe, die man sonst im Herbst trägt. Er tritt von einem Bein auf das andere. Ich weiß auch noch, daß ein Milizionär am Ufer hinter der Steinbrüstung steht. Auch der Milizionär wirkt fast wie ein Spielzeug in seiner viel zu weiten Uniform. Ich erinnere mich, daß der Mann den Kübel mit Wasser nicht mehr hochheben kann, daß er ihn am Griff hält und ihn durch den Schnee schiebt, daß das Wasser über den Rand schwappt und dadurch seltsame Figuren aus Eis auf dem zurückgelegten Weg markiert. Es fällt mir auf, daß der Mann dem Milizionär Blicke zuwirft, die weder verstohlen noch unterwürfig sind. Es sind böse, beinahe unverschämte Blicke. Schließlich läßt der Mann den Kübel stehen, fällt auf die Knie. Er hat keine Kraft mehr. Reglos beobachtet der Milizionär den nahenden Tod des Mannes. Sein Gesicht ist undurchdringlich wie das der marmornen Sphinx aus dem vorigen Jahrhundet, die die Rampe hinunter zum Fluß bewacht. Der Milizionär weiß, daß der Mann liegenbleiben wird. Was kann er schon tun? Vielleicht denkt er über die Nutzlosigkeit nach, zu diesem Zeitpunkt an dieser Stelle stehen zu müssen. Vielleicht wäre er lieber an der Front, wo man schneller sterben kann, aber auch besser ernährt wird. Sich nur noch einmal sattessen und den Heldentod sterben. Wahrscheinlich denkt er über gar nichts nach. Denken verbraucht Kalorien. Der Mann hat sich wieder aufgerichtet und blickt dem Milizionär ins Gesicht. Dieser steigt von einem Bein auf das andere. Der Mann holt tief Luft. Er schreit. Ein Brüllen, Röhren, Quietschen. Der Atem kommt als dichter, weißer Dampf aus dem Mund des Mannes, hüllt sein Gesicht ein, so daß man Augen und Nase nicht mehr sieht, nur die von fahler Haut überzogenen Backenknochen — wie zwei Ellbogen. Ein Mensch mit Ellbogengesicht — eine immerwiederkehrende Gestalt in meinen Alpträumen. Einem Ameisenzug gleich zieht die Schlange der Wasserträger an ihm vorbei. Keiner blickt auf. Der Milizionär fischt eine Zigarette aus seiner Manteltasche, steckt sie sich in den Mund, holt aus derselben Tasche eine Streichholzschachtel. Die Finger gehorchen ihm nicht. Die Schachtel entgleitet ihm. Er bückt sich langsam. So als drückte ein unsichtbarer Riese mit dem Knie gegen sein Schulterblatt. „sie werden siegen! Ich seh sie schon kommen! Ich sehe ihre Helme. Die Fahnen mit den Hakenkreuzen. Sieg Heil!“ Der Milizionär starrt den Mann fassungslos an. Die Streichholzschachtel liegt immer noch im Schnee. Die Zigarette klebt an seiner Unterlippe. 28 „Die Bolschewiken sind am Ende! Nun ist alles kaputt, was Lenin, dieser alte syphilitische Psychopath geschaffen hat!“ Der Mann hüpft im Kreis. Wo er nur die Kraft hernimmt? An dem Wasser in seinem Kübel hat sich schon eine dünne Eisschicht gebildet. Doch die Menschen gehen weiter gleichgültig vorbei. Nur eine alte Frau blickt auf und murmelt etwas. Der Milizionär hat die Zigarette wieder in die Uniformtasche gelegt und den Schal um Mund und Nase gewickelt. Mit langsamen, vorsichtigen Schritten wie eine aufziehbare Puppe steigt er die Rampe hinunter zum Fluß. „Nieder mit der Sowjetmacht!“ schreit der Mann und fuchtelt mit den Armen. Ein Raunen geht durch die Menge. „Werft den Verrückten doch einfach ins Wasser“, höre ich die Stimme einer Frau. Beiläufig dahingesagt. Emotionslos. „Genosse Milizionär, nehmen Sie diesen Konterrevolutionär fest!“ Eine männliche Stimme. Der Milizionär bleibt keine zehn Meter vor dem Mann stehen. Er beobachtet die Szene. „Wenn Hitler in Moskau einmarschiert, hängt das gesamte Politbüro!“ schreit der Mann. Der Mann ist verzweifelt. Er zeigt dem Milizionär die Zunge — eine hilflose Geste —, schwankt auf ihn zu. „Nimm mich fest, du Sohn einer alten Hure und eines geilen Ziegenbocks! Nimm mich fest, du Cretin...!“ Die Kräfte verlassen ihn. Er fällt um wie ein Brett, wirbelt winzige Schneekristalle auf, die sich als Staub auf sein Gesicht legen. Er wird nicht wieder aufstehen, denke ich. Aber ich sehe, wie der Mann sich wenige Augenblicke später auf den Bauch dreht, sich auf die Knie zwingt, ausrutscht und hinfällt und dann doch wieder steht. Der Milizionär bewegt sich nicht. Seine Wimpern zucken regelmäßig. Alle paar Sekunden steigt er von einem Bein auf das andere. „Nieder mit der Judenbande! Nieder mit Stalin, dieser Judensau. Nieder mit Stalin, dem georgischen Juden!“ Und da, ganz plötzlich, setzt sich die aufziehbare Puppe wieder in Bewegung, faßt der Milizionär den Übeltäter am Kragen. „Jetzt ist es aber genug, Bürger“, sagt er leise, „kommen Sie mit!“ Dankbar trottet der Festgenommene hinter ihm her. In den Gefängnissen, so wird erzählt, ist die Verpflegung besser, und wer hingerichtet wird, hat alles überstanden. Ich schaue den beiden nach, bis der aufziehende Schneesturm sie am Ufer verschluckt. 166 Meine Freundin Mascha sehe ich selten. In der belagerten Stadt besucht man einander nicht, man spart seine Kräfte. Zu all meinen Bekannten und Freunden ist der Kontakt fast abgebrochen. Mascha kommt nie zu uns. Sie leidet an schwerer Dysenterie. Auf ihrem abgemagerten Körper haben sich Geschwüre gebildet. Sie hat kein Heizmaterial und niemanden, der sich um sie kümmert, außer mir. Ich bringe ihr Brotkrumen und ein wenig Grütze, aber sie rührt nichts an. „Deine Kinder brauchen es mehr als ich“, sagt sie, „und ich habe auch meinen Stolz.“ Stattdessen reden wir über das Essen, über Schtschi mit Fleisch und Sahne, Schokoladekuchen und Rehragout, obwohl wir nie in unserem Leben Rehragout gegessen haben. Mascha ist religiös geworden. Vor dem Schlafengehen murmelt sie ein Gebet, das man ihr als Kind beigebracht hat. Jetzt hängt eine Ikone an der Wand. Keine Ahnung, woher sie dieses Bild der Jungfrau Maria mit dem goldenen Heiligenschein hat. Vor dem Krieg war es nicht sinnvoll gewesen,