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Kultgegenstände dieser Art offen zu zeigen. Heute kümmert das keinen mehr. Mascha betet mehrmals am Tag. „Wenn ich sterbe, kannst du die Ikone behalten“, sagt sie. „Du darfst nicht an den Tod denken“, erkläre ich. „Sonst stirbst du mir noch wirklich weg, und das kannst du mir nicht antun.“ Sie wehrt meine Umarmungen ab. „Wenn ich tot bin, Kannst du meine Lebensmittelkarten haben“, sagt sie. Bis vor kurzem hat Mascha noch in einer Fabrik als Ingenieurin gearbeitet. Seit einiger Zeit geht sie nicht mehr hin. „Ich bringe dich ins Krankenhaus“, sage ich. „Es ist doch egal, wo ich sterbe“, sagt sie. „Ich gehe nicht ins Krankenhaus. Dort gibt es auch nicht mehr zu essen, nur andere Sterbende um mich herum. Ich möchte lieber allein sein.“ Sie spricht mit einer Bestimmtheit, die jegliche Diskussion ausschließt. Wir verabschieden uns immer so, als würden wir einander nicht wiedersehen. „Ich möchte dich segnen“, sagt Mascha. „Ich weiß, daß du Jüdin bist und daß es dir nichts bedeutet, aber ich möchte es trotzdem tun.“ Nach jedem Besuch bei Mascha, denke ich an die Deutschen, die wenige Kilomenter entfernt in ihren Unterkünften sitzen und warten, bis es uns nicht mehr gibt. Sicherlich essen sie Sauerkraut und Würste, trinken Bier und lachen über die russischen Untermenschen, die lieber in ihrer alten Hauptstadt krepieren, anstatt sich zu ergeben. Ich verspreche mir, keinen deutschen Satz mehr zu übersetzen. Kein deutsches Wort soll jemals wieder über meine Lippen kommen. Später werde ich dieses Versprechen vergessen, weil ein voller Bauch träge macht und milde und weil Sätze nur abstrakte Gebilde sind. Wenn man sich bemüht, spürt man die Menschen nicht, die dahinter stehen. Eines Tages ist Mascha wirklich tot. Das weiß ich schon, als ich über die abgetretenen Stufen der Treppe hinaufgehe. Die Tür ist nicht verschlossen, das Zimmer leergeräumt. Sogar die Ikone ist verschwunden. Maschas Gesicht ist friedlich, die Augen halb geöffnet, die Arme steifgefroren. Die Hände haben sich an den Falten ihres Mantels festgekrallt. Ich wickle sie in ein Leintuch und schleife ihren Körper vom Bett. Er ist leichter, als ich vermutet habe. Widerstandslos läßt er sich die Treppe hinuntertragen und auf den Schlitten legen. Es ist ein weiter Weg zum Friedhof. Ich kämpfe gegen das Gewicht des Schlittens und den eisigen Wind an. Je mehr Frauen mit Schlitten um mich herum sind, desto näher ist der Friedhof. Mit jedem Schritt wird der Weg länger. Aber ich darf noch nicht sterben. Meiner Kinder wegen nicht. Ich zähle die Schritte. Bei hundert werde ich eine Pause einlegen. Wenn ich bei hundert angelangt bin, beginne ich mit dem Zählen wieder bei Null. Das Knirschen der Kufen im Schnee klingt wie das Auskratzen eines Tellers, eines Tellers mit Buchweizenbrei oder Hirsebrei oder Suppe. Eine Frau mit fahlem Gesicht und eingefallenen Wangen trägt Maschas Namen in das Totenbuch ein. Wieder ein Esser weniger, wieder etwas mehr für die Überlebenden. In den letzten Dezembertagen wurden die Brotrationen ein wenig erhöht. Vor dem Gebäude der Friedhofsverwaltung mußte ich, wie vor einem Lebensmittelladen, schlangestehen. Wenigstens drängte sich hier keiner vor. Maschas Leiche wird zusammen mit den anderen auf einen Schlitten gelegt, der von einer Handvoll Frauen gezogen wird. Die Spur im Schnee reicht fast bis hinunter zur Erde. Eine Allee führt an Grabsteinen, Grabplatten und Denkmälern vorbei. Dahinter ist eine weitläufige Fläche mit einer riesigen Grube. Am Grubenrand wird der Schlitten gekippt. Dann schaufelt man etwas Erde und Kalk auf die Toten. Die Sirenen heulen. Die Passanten suchen Luftschutzkeller auf. Unwillig verschwinden sie in den Hauseingängen. Ich aber gehe weiter. Hundert. Neunundneunzig. Achtundneunzig, zähle ich die Schritte, den Blick auf die Spitzen meiner gegen die Kälte mit Tuch umwickelten Überschuhe gerichtet. Die Stiefel habe ich gegen Brot getauscht. Die Füße schleifen über den Boden, als ginge ich auf Skiern, schieben den Schnee vor sich her, Maulwurfshügel, die nach jedem Schritt wieder zerfallen. Auf das Pfeifen der Bomben und die Detonationen achte ich nicht. Da höre ich aus meinem Inneren plötzlich Maschas Stimme. Sie klingt wie früher, wie vor der Blockade, laut und klar und ein wenig hart. „Willst du dich denn umbringen, Rosa?“ fragt die Stimme. „Ich bin tot, aber du lebst noch und hast eine Verantwortung zu tragen. Rette dich, ich aber bleibe bei dir und werde dich bis an dein Lebensende begleiten.“ Ich hebe den Kopf. Eine weiße Wolke aus Staub und Schnee hüllt, keine hundert Meter von mir entfernt, ein Wohnhaus ein, als hätte man darüber eine riesige Ladung Streuzucker ausgeleert. Flammen schießen aus dem Dach. Der Rauch wird grau, dann schwarz. Die Wände neigen sich und fallen gemächlich in sich zusammen. Schnell flüchte ich in einen Hauseingang und taste mich die dunkle Treppe hinab, die zum Keller führt. Die Februartage sind besonders kalt. An einem dieser Tage gibt es in unserem Geschäft kein Brot. Die Menschen beschweren sich nicht. Sie sind entkräftet. Welchen Sinn hätte es, sich aufzuregen. An diesem Tag sterben viele in unserem Haus. Am übernächsten Tag, einem Sonntag, verschwindet Schelja aus dem Hof. Im Hof spielen die Kinder Frieden: Vater. Mutter. Kind. Ein gedeckter Tisch. Schneebälle zu Törtchen, Rumkugeln und Fleischbällchen geformt. Eiszapfen als Messer und Gabel. In der letzten Dezemberwoche ist auch Schelja nicht mehr aus der Wohnung gegangen. Ich nahm sie zu mir ins Bett und wärmte sie mit meinem Körper. Seit die Lebensmittelrationen auf dreihundert Gramm Brot für Arbeiter und zweihundert für Angehörige und Kinder erhöht worden sind, fühlt sich Schelja wohler. Wenn ich aus dem Fenster im Flur hinunterschaue, sehe ich sie im Hof Laufschritte machen. Mit fünf Jahren ist nur der Augenblick wichtig. Alle zehn Minuten schleppe ich mich aus dem Wohnzimmer hinaus auf den Gang, um durch das Fenster in den Hof zu schauen. Spätestens in einer Stunde hole ich sie hinauf, damit sie sich nicht erkältet. Wenn sie krank wird, hat sie keine Überlebenschance. Außerdem möchte ich mich am Sonntag nicht mehr als notwendig bewegen, am liebsten habe ich beide Kinder bei mir im Zimmer, um mich hinlegen und ausruhen zu können. Die Augen schließen. An Naum denken. Was für ein Glückspilz mein Mann ist! Fernab der Front führt er in Chabarowsk ein eintöniges, gemütliches Kasernenleben. Seinem Wunsch, an die Leningrader Front versetzt zu werden, wurde nicht entsprochen. Im viereckigen Hof haben Kinderfüße den Schnee zu einer hartgefrorenen Masse gestampft. Wer noch kann, nimmt einen Anlauf, um über den Hof wie über eine Eisfläche zu gleiten. Einige klettern sogar auf die umgeworfenen Müllbehälter. Die 29