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schen bombardieren uns, und nun beginnen die Briten, die Deutschen zu bombardieren. Dies halten wir für ein legitimes Mittel der Kriegsführung, aber unsere Toten zu verspeisen, um dem sicheren Hungertod und der Kapitulation zu entgehen, halten wir für verwerflich. Solche Überlegungen seien unethisch, werden Sie sagen. Unvorstellbar? Die Maori in Neuseeland haben ihre Feinde gegessen und waren doch um vieles friedliebender als unsere westeuropäischen und angeblich so zivilisierten Nachbarn. Selbstverständlich halte ich es für unmoralisch, Menschen zu töten, um sie aufzuessen. Aber was ist mit den unzähligen Toten, die wir völlig nutzlos in Massengräbern verscharren?“ Ich habe ihm damals keine Antwort gegeben. Später erfuhr ich, daß Schamkin seinen Großvater, der an Hunger und Erschöpfung gestorben war, verspeist hatte. Schamkin und seine Frau meldeten den Todesfall nicht sofort, um noch einige Tage lang für den Großvater Lebensmittelkarten zu beziehen. Das war nicht unüblich. Viele Leningrader taten dasselbe. Die Schamkins ließen die Leiche im Bett liegen. Einige Tage vergingen. Der Hunger war groß und Schamkins Frau am Ende ihrer Kräfte. Schamkin hackte seinem Großvater den Arm ab, kochte ihn und rettete mit dem Fleisch und der Suppe das Leben seiner Frau. Der Friedhofsverwaltung wollten sie melden, Großvater habe den Arm bei einem Fliegerangriff verloren. Doch sie brachten Großvater nicht zum Friedhof, verschoben es auf den nächsten Tag und dann wieder auf den nächsten und wieder auf den nächsten, verspeisten den zweiten Arm, dann ein Bein und später das andere, die Leber, die Lunge, das Herz... Schließlich blieb nur das Skelett übrig. Ich kann mich nicht mehr erinnern, wie die Sache aufgedeckt wurde, aber beide Übeltäter hat man auf der Stelle erschossen. Kurzer Prozeß für Menschenfresser. Gerichtsverhandlung unnötig. „Schlejal!!“ Schelja! höhnt das Stiegenhaus. Schelja! Schelja, verhallt es dumpf. Im Zwielicht werden die Schatten des Geländers zu aberwitzigen Gestalten mit spitzen Zähnen. Der Keller ist leer. Aber ich habe ohnehin nicht wirklich gehofft, Schelja dort zu finden. Ich hämmere gegen eine braungestrichene Wohnungstür im Nachbarhaus. Wieder eine Enttäuschung. Borjka hat Schelja nicht in die Wohnung seiner Eltern mitgenommen. Seine Mutter teilt meine Sorge nicht. „Menschenfresser?“ Aus ihrem Mund klingt das spöttisch und bitter zugleich. „Unseren Borjka ißt niemand so leicht, eher noch wird er selber jemanden fressen. Das Kind ist mir völlig entglitten, treibt sich mit Älteren herum, mit Halbstarken, kleinen Kriminellen! Sie können sich nicht vorstellen, was für Wörter er gelernt hat. Da muß ja sogar ich erröten... Aber er kommt wieder, Sie werden sehen.“ Das beruhigt mich wenig. Ich verabschiede mich, überquere die Straße, gehe zurück zu unserem Haus, mache mir Vorwürfe, daß ich Schelja immer weniger Aufmerksamkeit geschenkt habe als Kostik. Sie ist die Robustere, die Unkompliziertere von den beiden. „Laß sie noch am Leben sein!“ schreie ich und beginne zu weinen. „Ab nun werde ich meine Kinder gleich behandeln. Ich verspreche es!“ Dann murmle ich alle jüdischen Gebete, an die ich mich erinnern kann... Einige Wochen zuvor wurde in der Fabritschnaja ein Menschenfresser gestellt. Einer von der schlimmsten Sorte, ein „Frischfleischliebhaber“, der keine Leichen gestohlen, sondern gemordet hat. Zwei Soldaten haben die Tür zu seiner Wohnung eingetreten, in der es aussah wie in einem Schlachthaus. Von der Decke hingen Leiber mit abgezogener Haut. Der Menschenfresser versuchte aus dem Fenster zu springen. Die Soldaten zogen ihn vom Fenstersims wieder ins Zimmer hinein. „Wegen einem solchen Abschaum werden wir keine Kugeln verbrauchen! Die sind für die Deutschen bestimmt“, soll ein Soldat gesagt haben. Sie haben den Menschenfresser auf seinem Sofa erwürgt, wurde später berichtet. In der Wohnung fand man Körperteile eines kleines Mädchens. Ich sehe ein weiteres Mal im Hof nach. „Schelja ist immer noch nicht zurückgekommen, Rosa Abramowna!“ berichten die Kinder. Schon bin ich wieder auf der Straße vor dem Haus. Ich suche die Fabritschnaja und einige Seitengassen ab. Im Hof der Glühbirnenfabrik, die jetzt, wie fast alle Fabriken in der Stadt, Kriegsmaterial produziert, drängt mich die Masse der Arbeiter, die von der Schicht kommt, durch das Tor hinaus. Auch am Sonntag wird gearbeitet. Es ist später Nachmittag. Dunkelheit senkt sich über die Stadt. Ich muß nun zur Miliz, obwohl mir die Nutzlosigkeit einer Anzeige bewußt ist. Der fremde Mann ist ein Phantom ohne Größe, Alter und Gesicht. Wenn er Sche]ja töten wollte, hat er es bestimmt längst getan. Wie eine Betrunkene schwanke ich an den Passanten vorbei, stoße mit jemandem zusammen. Jemand beschimpft mich. Im Augenwinkel sehe ich zwei Kinder. Sie gehen auf der anderen Straßenseite in die entgegengesetzte Richtung. Richtung Fabritschnaja. Ich werfe einen Blick auf das kleine Mädchen. Das könnte Schel]ja sein. Ich gehe weiter, und es vergehen einige Augenblicke, bevor mir klar wird, daß es tatsächlich Schelja ist. Ich schreie. Ein lautes, unartikuliertes Brüllen. Die beiden Kinder bleiben stehen, schauen betreten zu Boden, während ich auf sie zulaufe. Ich muß wie eine Furie aussehen. Warum ziehen die beiden denn sonst ihre Köpfe ein und heben ihre Arme schützend in die Höhe? „Wo wart ihr?“ Dies bringe ich gerade noch heraus. Ich bin so außer Atem, daß ich die Hände in die Seiten pressen und mich vorbeugen muß. „Nur im Theater“, sagt Borjka mit weinerlicher Stimme. „Ihr wart wo?“ Ich richte mich wieder auf. Schelja umarmt meine Beine, hebt den Kopf und schaut mich schuldbewußt an. „Es tut mir leid“, piepst sie. „Ein Mann vor dem Haus hat uns erzählt, daß er in der Bolotnaja ein Plakat gesehen hat“, erklärt Borjka schüchtern. „Eine Kindertheatergruppe hat Rotkäppchen und der böse Wolfin einem Luftschutzkeller gespielt, und der Eintritt war frei.“ Die Bolotnaja liegt keine zehn Minuten von der Fabritschnaja entfernt. Warum nur habe ich dieses Plakat nicht gesehen? Trotz des Hungers wird in der belagerten Stadt noch Theater gespielt. Man kann auch ins Kino gehen, und es gibt Konzerte. „Es war toll!“ sagt Schelja. „Der Wolf trug ein kleines Bärtchen. So wie Hitler. Und Rotkäppchen hatte einen roten Stern auf ihrem Kleid.“ Ich bin viel zu glücklich, daß meine Tochter am Leben ist, um ernsthaft böse zu sein. „Du hättest mich um Erlaubnis fragen müssen“, ermahne ich Borjka. „Du kannst nicht einfach meine Tochter entführen! Was hast du dir eigentlich dabei gedacht?“ Aber anstatt zu antworten, dreht sich der Übeltäter um und läuft davon. Ich hebe meine Tochter hoch. Ich drücke sie an mich, und sie schlingt ihre winzigen Arme um meinen Hals. Ich trage Schelja nach Hause. Sie schmiegt sich an mich. Ich bin glücklich. Glücklich, weil sie lebt, glücklich weil ihr nichts geschehen ist, glücklich weil sie vielleicht diesen Winter, diesen Monat, diese Woche, diesen Tag überleben wird. 31