OCR
kein Vertrauen. Der Erste Weltkrieg hat mir gereicht. Das Saarland ist besetzt und die Rüstung arbeitet wie noch nie. Es gibt Arbeitsplätze, natürlich, aber wo führt das hin? Du solltest eure Ausreise auch vorbereiten, solange das noch möglich ist.“ Papa meinte, die Dinge würden schon irgendwie geregelt werden, wir lebten doch im Zwanzigsten Jahrhundert. Onkel Adi fuhr fort: „Dies ist nicht mehr das Deutschland unserer Jugend, das Land von Goethe, Schiller und Kant. Wer etwas begreifen will, sollte lieber ‚Mein Kampf“ lesen. Sie halten sich an kein Versprechen, mit Ausnahme der Versprechen, die sich gegen jüdische Staatsbürger richten. Seit der Machtübernahme sind schon mehr antijüdische Gesetze verordnet worden als im Mittelalter.“ Man konnte etwas lernen, wenn man gut zuhörte. Seit einiger Zeit sangen wir in der Schule ein Lied, dessen Text ich eigentlich nicht gut begriffen hatte: Deutsch ist die Saar, Deutsch immerdar. Und Deutsch ist uns’res Flusses Strand Und ewig Deutsch mein Heimatland, Mein Heimatland, mein Heimatland. Im Vergleich zu anderen Liedern klang das Lied friedfertig. Seit dem Frieden von Versailles gehörte das Saarland nicht mehr zu Deutschland, und jetzt waren uniformierte Nazis dort einmarschiert und hatten es zurückgeholt. Die Nazis akzeptierten den Frieden von Versailles nicht, weil er ihrer Meinung nach vom „Weltjudentum“ verordnet worden war. Neulich am Sonntag hatten Onkel Herbert und Onkel Hugo, die nicht jüdisch waren, darüber gesprochen. „Was dieser Quatsch denn soll“, hatten sie gesagt. „Jeder hätte lieber gesehen, daß Deutschland der Sieger ist, aber es kam eben anders. Und wer war das ‚Weltjudentum‘ eigentlich? In der Politik gab es beinahe keine Juden, die machten mehr Kultur und Wissenschaft, das wußte doch jeder." „Die Propagandamühle dreht sich aber Tag und Nacht“, meinte Onkel Adi, „die Leute wollen glauben, was sie sehen und hören: Hakenkreuzfahnen und eine jauchzende Menschenmasse. Auf die Wahrheit kommt es nicht an.“ Solche Diskussionen gab es öfters. Dabei beschrieben die, die das Land bald verlassen wollten, den Zustand als schlimmer, als er schon war, während die „Bleiber“ die Situation zu rosig sahen. „Hör mal“, sagte Papa jetzt zu seinem Schwager, „ich weiß was du meinst, aber von anderen Ländern weiß ich nur wenig, und ich möchte für meine Kinder eine deutsche Erziehung. Das deutsche Volk ist ein gesundes Volk, der Zustand kann nicht mehr lange dauern.“ „Was meinst du bloß mit ‚nicht mehr lange‘? Der Zustand hat schon zu lange gedauert, und es wird schlimmer statt besser.“ Mama tat mir leid, weil ihre Schwester Selma, die auch ihre beste Freundin war, Deutschland verlassen wollte. Das Kaiser Wilhelm Gymnasium hatte einen sehr guten Ruf, Papa hatte mich gleich nach meiner Geburt dort angemeldet. Seiner Meinung nach war eine gute Schulbildung besonders wichtig, und mir sagte das zu; ich wollte sowieso immer alles wissen. Weniger gefiel mir, daß ich meine Freundinnen aus der Volksschule nur noch selten treffen könnte. Jede ging wo anders hin: Lisa in das Gymnasium, das ihre Mutter besucht hatte, Lore in eine höhere Realschule und Inge in die Schule, in der ihr Vater sein Abitur gemacht hatte. 34 Es kam aber anders. Papa, der den Rektor des Gymnasiums kannte, wollte noch einige Dinge mit ihm besprechen und hörte bei dieser Gelegenheit, daß ich, als jüdisches Kind, offiziell nicht zugelassen werden könne. Aber der Rektor hatte so seine eigene Meinung: „Ich bin ein Rektor vom alten Schlag und gute Schüler sind mir immer willkommen. Ich würde ihre Tochter gern aufnehmen. Sie sind ja schließlich Frontkämpfer, und wenn es Ihnen recht ist, schreiben wir Ihre Frau als ‚arisch‘ ein. Kontrolle bekomme ich nie. Von Anfang an war ich Parteimitglied.“ Papa war von seinem Stuhl aufgesprungen. ,,Sie sind in der Partei?“ fragte er voll Unglauben. „Ja“, war die Antwort, „ich bin kein Nazi, aber ich wollte nicht jedes Mal von so einem Partei-Heini kontrolliert werden. Jetzt mache ich meine Arbeit und man läßt mich in Ruhe. Sie können sich die ganze Angelegenheit ja noch überlegen. Sollten Sie ein jiidisches Gymnasium vorziehen, kann ich Ihnen das neue empfehlen. Herr Dr. Strauß vom Leibnitz Gymnasium wird dort Rektor, ein sehr guter Pädagoge.“ Papa verabschiedete sich, dankbar für den Rat. Mama war es ganz und gar nicht recht, als ,arisch‘ eingetragen zu werden, und ich wollte in eine Schule, wo ich keine Sonderstellung einnahm. Meinen beiden besten Freundinnen, Lisa und Inge, erzählte ich alles. Sie nickten nur, und ich dachte, sie hätten von ihren Eltern schon gehört, daß jüdische Kinder nun nicht mehr auf Deutsche Gymnasien gehen durften. Wieder änderte sich alles. Anfang Januar bekamen wir die Nachricht, daß das für das neue Gymnasium vorgesehene Gebäude am Bahnhof Knie ‚sichergestellt‘ worden war. ‚Sicherstellen‘ war ein Naziausdruck, der immer gebraucht wurde, wenn jüdischer Besitz gestohlen wurde. Papa rief in der jüdischen Gemeinde an. „Die neue Adresse ist Wilsnackerstraße 3.“ „Das ist in Moabit und eine Wohngegend, da kann man doch keine Schule hinsetzen.“ „Es wird auch nichts hingesetzt. Wir haben ein Gebäude zugewiesen bekommen, und Auswahl haben wir keine. Es ist ein Wohnhaus, die nötigen Änderungen sind in vollem Gange und werden rechtzeitig abgeschlossen.“ Neugierig sah ich mich in meiner neuen Umgebung um. Am ersten Schultag entstand ein ziemliches Durcheinander, da jeder seine Klasse erst suchen mußte. Wir kamen aus allen möglichen Gegenden Berlins, kannten einander nicht und mußten uns irgendwie orientieren. Mein Klassenzimmer war recht klein, sah aber nett aus, und als ich langsam und zögernd hineinging, sagte ein Mädchen mit dunkelblonden Zöpfen zu mir: „Ich bin Helga Schleimer und kenne hier niemand. Möchtest du dich nicht neben mich setzen?“ Ich nickte. Helga wollte gern wissen, wo ich wohnte. „Hasenheide, direkt am Hermannplatz.“ „Wo ist denn das?“ „Mit der Straßenbahn 21 eine halbe Stunde, wo wohnst du denn?“ „Fasanenstraße.“ „Oh, ich weiß, wo das ist: eine Seitenstraße vom Kurfürstendamm. Meine Tante und mein Onkel wohnen in Charlottenburg, ich kenne die Gegend ein bißchen.“ „Wenn du wieder einmal zu ihnen fährst, besuche mich doch bitte auch, ich würde mich schrecklich freuen. Ich kann dich vom U-Bahnhof Wittenbergplatz abholen, es ist nicht so weit.“