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Inzwischen ließen die Pläne der Nazis an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig, aber an uns Kindern ging das irgendwie vorbei. Die neue Schule gefiel uns gut. Sport war auch hier wichtig, genau wie wir es gewohnt waren. Nur allzu gern gingen wir auf dem Sportplatz in Grunewald, um zu üben, Hochund Weitsprung, Kurzstreckenlauf 60 oder 100 Meter, Stafettenlauf, für die Älteren Speerwerfen und Kugelstoßen. Jedes Jahr im September sollte nun eine Meisterschaft der verschiedenen jüdischen Schulen stattfinden, und ich war gespannt, ob ich auf Grund meiner Leistungen ausgewählt würde. Die Einverleibung Österreichs war eine Tatsache geworden. Unvorstellbarer Jubel. Leute, die bisher noch an den Nazis gezweifelt hatten, waren jetzt überzeugt. Plakate „Ein Volk - ein Reich - ein Führer“ so weit das Auge reichte. Bei der Abstimmung hatten in Österreich 98 Prozent für den Anschluß gestimmt, ein großer Sieg. In der Schule sprach man nicht viel darüber; es gehörte weder zur Geschichte noch zur Erdkunde, es war Politik. Ich hätte gern mehr davon gewußt, aber die Lektüre mußte ich mir schon selbst beschaffen. Das passierte jetzt öfters, und meistens wußte ich genau, was ich lesen sollte, um besser informiert zu sein. Irgendwie waren wir älter als der Kalender angab. An den Gesichtern von Erwachsenen konnte ich oft sehen, wie erstaunt sie waren, wenn wir etwas behaupteten, das gar nicht zu unserem Alter paßte. Man lernte schnell, es geschah auch viel. Der Monat September war besonders schön und sonnig. Wir hatten eifrig für den jüdischen Sporttag geübt. Ich durfte bei der Stafette mitmachen. Mama saß irgendwo auf der Tribüne, aber ich hatte keine Zeit, nach ihr zu sehen. Die Teilnehmer kamen schon auf das Feld, jede Schule mit ihrer eigenen Fahne, die von dem besten Sportler getragen wurde. Es wurde ein phantastischer Tag, und wir gewannen die Bronzemedaille. Die Leistungen waren im allgemeinen sehr gut, man hatte genügend Vergleichsmaterial und wußte, was in einer bestimmten Altersgruppe die Norm war. Die „Herrenrasse“ imponierte uns nicht, wir konnten genau dasselbe. Es war der neunte November 1938. Die Welt der Leute, die noch an ein gutes Ende geglaubt hatten, brach zusammen. Am frühen Abend ließ eine hysterisch erregte Stimme aus dem Radio wissen, daß in Paris der Legationsrat Ernst von Rath von dem polnischen Juden Herschel Grynspan erschossen worden war. Die Stimme des Berichterstatters überschlug sich; war es wirkliche Wut oder nur Theater? Andauernd wurde alles wiederholt, als ob die Leute es auswendig lernen sollten. Nachts war es ruhig in der Hasenheide. Ich wurde wach, als ich Mama bei einem der Fenster stehen sah. Sie hatte ganz vorsichtig die Gardine zur Seite geschoben. Vor unserer Haustür hatte ein Lastwagen angehalten. Rasch sprang ein uniformierter SA-Mann mit einer Stange vom Wagen, lief zu unserem Schaufenster, schlug die Scheibe kaputt und sprang wieder auf den Lastwagen. Es ging alles so schnell, daß Mama nicht mehr genau wußte, ob sie es gesehen oder nur geträumt hatte. Wir dachten, daß es eine Einzelaktion gewesen sei. Geschlafen haben wir in dieser Nacht nicht mehr. Am nächsten Morgen herrschte in der Schule unbeschreibliches Chaos, meine Klasse war leer, die Lehrer waren nicht da. Die Lehrerinnen kümmerten sich hauptsächlich um die weinenden, schockierten Kinder, und ich suchte jemanden, der mir etwas erklärte, aber niemand hatte Zeit. Im Klassenzimmer der Quarta fand ich schließlich Helga. Sie saß dort ganz allein, hatte geweint, sagte aber nichts. Ich traute mich nicht zu fragen. Der graue Tag mit dem Nieselregen machte alles noch trauriger, als es ohnehin schon war, und wir warteten, ob vielleicht noch jemand kommen würde. Nun weinte Helga wieder. „Mein Vater ist mitten in der Nacht von SA-Männern abgeholt worden. Er lief ihnen nicht schnell genug, da haben sie ihn einfach die Treppe hinuntergeschubst. Ich habe ihn noch gesehen, er hatte bestimmt Schmerzen, aber das ließ er sich nicht anmerken. Sie warfen ihn in ein Lastauto und fuhren schnell weg.“ Nun war Helga wieder ganz gefaßt. Sie erzählte, als ob es jemand anderen betroffen hätte oder schon vor sehr langer Zeit passiert wäre. „In Charlottenburg und Wilmersdorf sind beinahe alle Männer abgeholt worden, niemand weiß, wo sie sind. Unser Nachbar wurde geholt und ein paar Häuser weiter auch noch jemand.“ Ich saß steif vor Schreck in meiner Bank. Jetzt begriff ich, warum so wenig Lehrer in der Schule waren. Wir hörten Leute vorbeikommen, doch schienen sie so beschäftigt, daß man sich nicht zu stören traute. So saßen wir eine lange Zeit schweigend nebeneinander. Schließlich fragte Helga: „Ist Dein Vater denn nicht abgeholt worden?“ „Nein, er ist zu Hause.“ Ich wollte zurück nach Hause, denn es würde keinen Unterricht geben. Außerdem wollte ich wissen, ob Papa noch da war. Langsam ging ich hinaus. Draußen stand ein Junge aus der Quarta, Helmut oder Werner, ich wußte es nicht mehr genau, ich kannte ihn von den Sporttagen, jetzt stand er unschlüssig an eine Tür gelehnt. „Guck mal“, sagte er, „da oben, ganz fern am Himmel, siehst du, daß es dort rot ist?“ Ich nickte. Es war eine rote Glut, die überhaupt nicht zu dem grauen Novembermorgen paßte. „Das ist die Synagoge in der Fasanenstraße. Heute Nacht ist sie angezündet worden und brennt immer noch.“ Es schien mir unglaublich und ich starrte den Jungen an. „Die Fasanenstraße ist weit weg, die können wir von hier aus gar nicht sehen, und außerdem, woher weißt du das?“ Meine Stimme war ängstlich, mir war schlecht geworden. „Jemand aus der Gegend hat es mir erzählt, und als ich heute früh durch die Prinzregentenstraße lief, brannte die Synagoge dort auch. Alles war zerstört und lag auf der Straße.“ Ich ließ meine Schultasche zu Boden fallen. Dem Jungen schien ich leid zu tun. „Vielleicht hätte ich es nicht erzählen sollen“, meinte er mitleidig. „Natürlich mußtest du das erzählen“, sagte ich mit einer Überzeugung, die ich gar nicht hatte. „Wir bekommen es ja doch zu hören, und dann ist es besser, wenn wir es von einander wissen.“ In einigen Ländern hatten Aktionskomitees beschlossen, jüdische Kinder aus Deutschland und Österreich zu retten. Man konnte sich registrieren lassen. Für meinen Bruder Heini und mich fiel die Wahl auf Schweden. Es sollte noch einige Monate dauern, da viel vorbereitet werden mußte, vielleicht durften Papa und Mama später auch nachkommen. Helga war mit ihren Eltern und ihrer kleinen Schwester Marga nach Holland gefahren. Wir hatten schon überlegt, wann und wo wir uns wiedersehen würden. Amsterdam war ja 35