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nicht weit weg. Zwei Wochen später saß sie wieder neben mir in der Klasse. „Wo kommst du denn her?“ fragte ich erstaunt. Ich hatte noch nie jemanden gesehen, der zurückgekommen war. Helga war ein bißchen blaß, versuchte ein Lächeln, das mehr nach Weinen aussah. „Man hat uns zurückgeschickt, scheinbar waren die Papiere nicht in Ordnung. Mein Vater ist im Konzentrationslager. Unsere Wohnung war noch nicht wieder vermietet, dem Hausbesitzer war es recht, nun wohnen wir wieder in der Fasanenstraße.“ Eine schreckliche Geschichte. Das Schlimmste war, daß Helgas Mutter jetzt nichts für die Kinder oder sich selbst unternehmen würde, weil der Vater im KZ saß. Sie wollte Deutschland nicht ohne ihn verlassen. Unsere schwedischen Papiere waren in Ordnung und wir konnten weg. Wie Erwachsene bekamen wir Pässe mit Photos und Stempeln und allem was dazugehörte. Es war also wirklich ernst. Bis zum Abreisetag am 12. Februar 1939 gab es noch viel zu tun. In der Schule wurde recht oft über die Länder gesprochen, in die wir fahren würden, man lernte die Hauptstädte und was für Leute dort lebten. Am zwölften Februar nahmen wir Abschied auf dem Anhalter Bahnhof. Ein kalter Wind wehte. Mama hielt sich recht gut, Papa segnete uns mit dem hebräischen „Jeware‘checha adonai we‘jischmarecha‘“ („Möge Gott dich segnen und behüten‘) und beugte seinen Kopf tief, als er Heini segnete. Niemand sollte sehen, daß er Tränen in den Augen hatte, und hören, daß seine Stimme gebrochen war. Ich merkte es trotzdem, fing an zu zittern, um gleich danach tief zu atmen, so daß niemand mir etwas anmerken konnte. Wir stiegen in den Zug und winkten noch lange. Es war ein Abschied für immer. Judith Markus, geboren 1926 in Berlin, kam 1939 mit einem Kindertransport nach Schweden und lebt seit 1950 als Psychologin in Amsterdam. Bei Nijgh & Van Ditmar in Amsterdam ist im Jahr 2000 ihr Buch ,, Het vaterland. Kinderjaren in Berlin“ erschienen. — Ihr Vater wurde am 13. Mai 1942 in Dachau ermordet, ihre Mutter am 4. Marz 1943 nach Auschwitz deportiert, wo sich ihre Spuren verlieren. Ihre Schulfreundin Helga wurde am 15. August 1942 nach Riga deportiert. Auch tiber ihre Ermordung existieren keine Aufzeichnungen. Eine Autobiographie, geschrieben für ein Preisausschreiben 1940. Zwar gewann die Autorin keinen Preis, aber ihr Manuskript wurde fotografiert und in einer Filmrolle im Archiv der Harvard Universität aufbewahrt. Erst 1999 gab es Detlef Garz im Libelle Verlag heraus. Das Manuskript liegt vor mir. Es hat mich auf umständlichen Wegen erreicht: Oldenburg, Haifa, Bet-Schemesch. Ich wußte sofort, worum es sich handelt, da Käthe Vordtriede, geb. Blumenthal, die Cousine meiner Mutter war, von der sie gerne und oft erzählte. War sie doch die Tochter des Lebemanns Bernard Blumenthal, eines finsteren Mannes, der einen Teil seines Lebens in Sumatra als Direktor einer Tabakplantagen in holländischen Diensten verbrachte. Außerdem behauptete er, den ausgestopften Löwen, der seinen Garten in Deutschland zierte, selbst erlegt zu haben. Käthe Blumenthal-Vordtriede war die Tochter seiner zweiten Frau Amalie, war wild, undiszipliniert und wahrscheinlich 50 Jahre zu früh geboren. Manchmal verschwand sie spurlos, dann rauchte sie im Bett eines Hotelzimmers und setzte das ganze Hotel in Brand, wahrscheinlich nur, weil sie vom Löwenpapa oft geschlagen wurde. Sie verließ Herford so schnell wie möglich, heiratete einen gewissen Vordtriede, gebar Sohn und Tochter — und ließ sich scheiden. Der Sohn Werner wurde Dozent an der Cincinnati Universität, Ohio. Käthe Vordtriede, die in Hannover geboren war, zog von Stadt zu Stadt, arbeitete als Journalistin für verschiedene Blätter und war ihr ganzes Leben politisch tätig, jahrelang in der kommunistischen Partei. Sie konnte sich noch in letzter Minute nach der Schweiz retten und starb 1964 in New York. Einmal nur schickte sie uns aus den USA von sich und ihren schon erwachsenen Kindern ein 36 merkwürdiges Bild. Alle drei starrten auf einen fernen, undefinierbaren Punkt, der nichts, aber auch nichts über sie aussagte. Dann waren sie bis zum Ende ihres Lebens wieder verschwunden. Und doch habe ich sie einmal gesehen und nie wieder vergessen, denn sie war wirklich nicht wie alle anderen. Es war der 27. Januar 1939. Ein Familientreffen fand bei Tante Jenny statt, die damals noch ihre Villa im Grunewald besaß. Alle waren da. Alle Tanten und Cousinen hatten einen langen Weg hinter sich, waren aufgeregt und nervös, da die Männer nicht mitkommen konnten und in Gefahr waren, tranken ihren Kaffee lustlos und schoben die Kuchenkrümel hin und her, ohne sie zu essen. Jeder einzelne fragte sich im Stillen: Sehen wir uns je wieder? Ich war noch zu jung, um mir darüber Gedanken zu machen, doch etwas von der Atmosphäre spürte ich, und obwohl ich fleißig Kuchen mit Schlagsahne in mich hinein stopfte, ging ich kauend von Tante zu Tante und bat höflich, mir etwas in mein neues Poesiealbum zu schreiben, das mir meine Mutter extra für diesen Zweck gekauft hatte. Was sie alle schrieben, weiß ich nicht mehr, was aber Käthe Vordtriede schrieb — habe ich nie vergessen. Ich sehe sie vor mir, mädchenhaft einfach gekleidet, sie schrieb und lachte, lachte und schrieb: Für Sulamith zum Abschied von Europa! 1939 Zieht im Herbst die Lerche fort, singt sie leise „ade!“ — willst du auch von mir ein Wort, eh ich von dir geh? —