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Sieh, die Trän’ in meinem Aug’ spricht „Vergiß mein nicht!“ — Lieder hat die Lerche auch, Tränen hat sie nicht! Wenn du einst als Großmama Im Sessel sitzt bei Großpapa, So denk in deinem großen Glück an Käthe Vordtriede zurück! Das war die Abschiedsfeier von der Familie und von Berlin. Keine der Tanten und Cousinen sahen wir wieder: Anna und Grete flüchteten nach England, Käthe gelang es, die Schweiz zur Zeit zu erreichen, Gretchen Lewinsohn, die einzige Schwester meiner Mutter, starb mit ihrem Mann Martin in Theresienstadt, und Omama Emma Herzfeld, wurde achtzigJjährig vor Minsk erschossen. Gretchen und Martin Lewinsohn waren sehr wohlhabend. Sie hatten in Osterode, Ostpreußen, einen Weinkeller mit Fabrik und bewohnten eine wunderschöne Wohnung, die mit viel Geschmack und viel Geld eingerichtet war. Was wurde aus all ihrem Besitz? Wer bereicherte sich daran und wie? Jahrelang bekamen wir keinerlei Information darüber, und ich hatte mich schon damit abgefunden, nie mehr etwas über die Familie Lewinsohn zu erfahren. Nun lag das Buch Käthe Vordtriedes auf meinem Tisch, und ich fand darin die Odyssee meiner Familie beschrieben. Jetzt lasse ich endlich Käthe Vordtriede berichten, Seite 199-202 des Buches: Im Dezember 1938 fuhr ich nach Berlin, um mich von meinen Verwandten zu verabschieden, da ich hoffte, bald auswandern zu können. Meine Verwandten aus Ostpreußen waren schon vor längerer Zeit nach Berlin gezogen, weil sie in dem 14.000 Einwohner zählenden Osterode ihres Lebens nicht mehr sicher waren. Der Vetter hatte seine Fabrik und das dazugehörige Wohnhaus für einige tausend Mark renovieren lassen und dann verpachtet. Das Warenlager sollte zu einem niedrigen Preis abgezahlt werden. Der Pächter zahlte das Warenlager gar nicht und von der vereinbarten monatlichen Pacht ein Drittel gegen Mitte des Monats oder wann es ihm paßte. Die Familie lebte in Berlin zu fünft in einer Hofwohnung über einer Kegelbahn in zwei winzigen Zimmern, deren Korridor die Küche darstellte. Da es in Osterode kein Mensch gewagt hätte, ihre Möbel zu kaufen, schickten sie sie einem Auktionator in dem katholischen Allenstein, wo solche „Gesetze“ eher umgangen werden konnten. Auch den Inhalt der Schränke mußten sie mitschicken, weil in dem Berliner Loch kein Platz dafür vorhanden war. Für die Möbel bekamen sie nach vielem Schreiben etwas Geld, für den übrigen Hausrat nichts, da dem Auktionator angeblich alles gestohlen worden war. Bald nach dem Abschluß des Pachtvertrages mußte mein Vetter einen Anwalt in Osterode nehmen, wo er damals noch wohnte, weil der Pächter plötzlich gar nichts mehr zahlte. Er wurde zur Zahlung verurteilt, erhob Widerklage, wurde abgewiesen, es gab einen langen Prozeß durch mehrere Instanzen in Osterode, Allenstein und zuletzt in Königsberg. Auch dort am Oberlandesgericht bekam der Vetter vollständig Recht. Nun wurde der Pächter Parteigenosse und übergab die Angelegenheit der Parteileitung in Allenstein. Der Vetter mußte hinfahren, und unter der Bedrohung der Nazileiter unterschrieb er einen neuen Vertrag, der die Pacht auf die Hälfte herabsetzte. Er wäre sonst sofort ins Konzentrationslager gekommen. Unter wüsten Beschimpfungen wurde er entlassen. Seinem Anwalt teilte er die Sache mit. Der äußerte sich irgendwo empört über die Behandlung seines Mandanten, und der Vetter wurde aufs neue nach Allenstein vorgeladen und bedroht. Diesmal mußte er unterschreiben, daß er „freiwillig“ den Vertrag „abgeändert“ habe. Außerdem wurde ihm angedroht, daß er mit seiner Familie totgeschlagen würde, wenn er noch einmal erzählte, daß die Parteileitung die Pacht herabgesetzt habe. Ein dreckiger Jude dürfe das Wort Parteileitung gar nicht in den Mund nehmen, und mit den Worten: „Wir wollen es euch Juden austreiben, die Goien zu betrügen“, wurde er herausgeworfen. Als die unglückliche Familie nach Berlin gezogen war, bekam der Vetter am Pogromtag, dem 11.11. 1938, ein Schreiben der Osteroder Arbeitsfront, daß er sofort zu einer geschäftlichen Besprechung zu kommen hätte. Da er infolge der erlittenen Aufregungen herzkrank geworden war, fuhr meine Kusine die zehn Stunden durch den polnischen Korridor mit dem Nachtzug. In Osterode traf sie einen alten Arbeiter ihrer Fabrik, der sie zur Arbeitsfront geleitete, sie tröstete und ihr vor dem Haus die Hand drückte. Das war von drinnen gesehen worden und erregte die ersten Beschimpfungen. Die Frau sollte Fabrik und Wohnhaus für 5.000 Reichsmark an den Pächter verkaufen, also für etwas weniger, als die Renovierung gekostet hatte. Selbstverständlich weigerte sie sich zunächst, worauf sie nach Mißhandlungen ins Ortsgefängnis geführt wurde, um sich zu besinnen. Am gleichen Abend wurde sie nochmals dem Pächter und der Arbeitsfront vorgeführt. Es hieß, sie würde nun zum letzten Mal gefragt, ob sie den Kaufvertrag unterschreiben würde, die Kaufsumme würde monatlich abgezahlt. Da ihr nichts anderes übrig blieb, sagte sie, daß sie mit dem Nachtzug um zehn Uhr abends zurück nach Berlin fahren und die Einwilligung ihres Mannes holen wolle. Der Zug kam um acht Uhr morgens in Berlin, um neun fuhr dann wieder einer nach Ostpreußen. Man sagte ihr, daß sie diesen nehmen müßte, und wenn sie nicht am nächsten Abend um sieben Uhr wieder im Büro in Ostpreußen sei, würde sie in Berlin von der Gestapo geholt. Die arme Frau fuhr also die Nacht durch nach Berlin, telefonierte ihrem Mann, daß er sofort zum Bahnhof kommen und eine Vollmacht mitbringen müsse, da die Grundstücke auf seinen Namen eingetragen waren. Auf dem Berliner Bahnhof wurde alles schnell geschrieben, ohne Überlegung in der Eile, und dann fuhr die Ärmste zurück nach Osterode. Abends um sieben Uhr wurde der Kaufvertrag unterzeichnet, und da die todmüde Frau nirgends ein Unterkommen in Osterode gefunden hätte, da keiner es wagen durfte, sie aufzunehmen, machte sie in der gleichen Nacht die weite Reise zum vierten Mal. Schlafwagen waren damals für Juden schon verboten, und sie hätte auch nicht das Geld dazu gehabt. Der Vetter war bei Ausbruch des Weltkrieges Feldwebel, war von 1914-1918 an der Front und bekam das Eiserne Kreuz und andere Orden. Sein Bruder ist 1916 gefallen. Vorige Woche schrieb mir meine Kusine, daß die monatlichen Abzahlungen seit dem Anfang des neuen Weltkrieges ausgeblieben seien. Vermögen haben sie keines. Auswanderungsmöglichkeiten auch nicht. Sie leben vom Verkauf ihrer letzten Habseligkeiten. Die bei ihnen lebende Mutter der Kusine wird im April 80 Jahre alt. Dies ist das Schicksal einer einst sehr angesehenen Fabrikantenfamilie, die seit 1750 in Osterode in Ostpreußen ansässig ist. 37