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Nichts ist schwerer und nichts erfordert mehr Charakter, als sich in offenem Gegensatz zu seiner Zeit zu befinden und laut zu sagen: Nein. Kurt Tucholsky Gerade jetzt — nach einem kurzen Besuch in Debreczen, der Stadt, in der ich vor 62 Jahren als Zehnjähriger ungarisch lernen mußte — erinnere ich mich lebhaft an meine Kindheit. Am 7. Dezember 2000 hielt ich an der Universität Debreczen einen Vortrag über Rechtsextremismus in Mitteleuropa. Bei allen früheren Vorträgen dieser Vortragsreihe war der Saal mit seinen hundert Plätzen gefüllt, bei meinem Vortrag waren vielleicht vierzig StudentInnen anwesend. Freilich wurde ich als „Korrespondent des israelischen Radios in Wien“ angekündigt, und da es an dieser Universität viele Anhänger der rechtsextremen und antisemitischen MIEP-Partei gibt, wurden die meisten Plakate heruntergerissen. Mir kommt es vor, als ob man heute in Ungarn aus einem eingefrorenen Posthorn fast die gleichen schrillen Töne, den gleichen antisemitischen Geifer hört wie zu der Zeit, alsich zwischen 1938 und 1943 in Ungarn lebte. Bereits nach 1990, während der konservativen Regierung, griffen die ungarischen Rechten in die Mottenkiste und fingen an, darüber zu diskutieren, wer ein Ungar sei und ob Juden überhaupt dazugehören könnten. Seit 1998 regiert wieder eine rechte Koalition und wird dabei von der von Istvän Csurka angeführten MIEP unterstützt. Im Budapester öffentlich-rechtlichen Radio kann man wöchentlich eine antisemitische Sendung hören, antisemitische Bücher und Zeitschriften werden offen verkauft und Politiker benützen antisemitische Redewendungen. Da ist es kein Wunder, wenn — so wie ich es vor 61 Jahren erlebt habe — auch heute jiidische Kinder auf offener StraBe beschimpft und physisch angegriffen werden. Zum siebten oder achten Geburtstag — noch durften wir in Baden bei Wien leben — gratulierte mir mein Bruder aus Jerusalem und schrieb, ,,sei immer stolz Jude zu sein“. Konnte man als Kind damals stolz auf sein Judentum sein? Mir hat vielleicht gerade diese Geburtstagskarte geholfen, meine Menschenwiirde zu wahren, an einem Ort und in einer Zeit, als die Zugehörigkeit zum Judentum bedeutete, als Jude beschimpft zu werden und später zum Tode verurteilt zu sein. Vielleicht zeigen meine Erinnerungen, daß es keinen Sinn macht, antisemitische Aggressionen in der Hoffnung auf bessere Zeiten stillschweigend zu dulden. Mein Vater und meine Mutter, 1882 und 1888 in Ungarn geboren, kamen 1908 nach Wiener Neustadt, wo mein Bruder 1913 zur Welt kam. Nach dem Ersten Weltkrieg wurden meine EItern österreichische Staatsbürger. Sie erwarben in Baden ein Haus und lebten als geachtete, gutsituierte Österreicher bis zum 11. März 1938. Danach bemühten sich meine Eltern, so schnell wie möglich das Land zu verlassen. Da mein 56jähriger Vater befürchtete, keine neue Sprache mehr erlernen zu können, versuchte er die ungarische Staatsbürgerschaft wieder zu erlangen. Doch der „Anschluß“ radikalisierte die ungarischen Antisemiten, und so beschlossen die Behörden, Juden 38 nicht mehr einzubürgern. Damals wie heute gab es aber korrupte Beamte, und so konnten wir auf abenteuerlichem Weg nach Ungarn gelangen, wo die Verwandten uns mit offenen Armen empfingen. Damit ich Ungarisch lerne, schickten mich meine Eltern in das jüdische Internat nach Debreczen. Das war für meine Eltern, die zuvor in Österreich („Ostmark“) gründlich ausgeraubt worden waren, eine große Geldausgabe, und ich wurde ermahnt, ja alles in meiner Kraft stehende zu tun, damit ich diese Sprache so schnell als möglich erlerne. Der Klang der Sprache war mir bereits vertraut, da meine Eltern — wenn sie mir etwas verheimlichen wollten — ungarisch sprachen. Im jüdischen Internat und im jüdischen Gymnasium in Debreczen — das einzige in Ungarn außerhalb Budapests — herrschte eine angenehme Atmosphäre. Weder die Lehrer noch die Erzieher erhoben je ihre Stimme. Lebhaft kann ich mich an den Turnlehrer erinnern, der - obwohl er während der Berliner Olympiade eine Goldmedaille für Ungarn gewonnen hatte — nur an einer jüdischen Schule unterrichten durfte. Wir erhielten eine ungarische und jüdische Erziehung. Ich glaubte damals, beides sein zu können. Als ich vor 62 Jahren im Dezember 1938 oder im Januar 1939 die Differenzprüfung für den Eintritt in ein ungarisches Gymnasium ablegen mußte, war ich von Angst erfüllt, saß ich doch bereits drei Monate in der ersten Klasse und verstand nicht alles, was die Lehrer sagten. Im gut geheiztem Klassenraum wartete ich und zitterte, als der Chef der Prüfungskommission, ein protestantischer Pfarrer, ein großer Mann mit hängendem schwarzen Schnurrbart, als erster in den Raum eintrat und mich musterte. Er verstand nicht, weshalb ich zitterte, und fragte mich nach dem Grund. „Ich habe Angst, denn ich sitze in der Klasse und verstehe vieles, sehr vieles nicht.‘ Der Pfarrer streichelte mein Haar und sagte: „Mein Sohn, habe keine Angst, wir sind keine Deutschen und du bist auch ein Ungar!“ So empfand auch ich in diesem Moment. Vielleicht war ein Grund dafür, daß wir im Internat sehr behütet wurden. Wir durften niemals allein auf die Straße gehen und marschierten in der Früh in Begleitung älterer Schüler in Dreierreihen ins Gymnasium, mittags kehrten wir in der gleichen Formation zurück. Wie in allen ungarischen Schulen, mußten auch die jüdischen Schüler vor dem Unterrichtsbeginn aufstehen und folgendes Gebet aufsagen „Ich glaube an einen Gott, ich glaube an die Heimat, ich glaube an eine ewige göttliche Gerechtigkeit, ich glaube an die Wiederauferstehung Ungarns“. Ein Bruder meiner Mutter, der ein paar Jahre später mit seiner Frau im Konzentrationslager Jasenovac in Kroatien ermordet wurde, hatte uns 1938 stolz das Dokument eines Urgroßvaters gezeigt, der 1848-49 als Soldat der ungarischen Revolution gegen die Habsburger kämpfte. Kein Wunder, daß ich mich nach den Erfahrungen in Österreich als Ungar fühlte und dachte, bald, sehr bald werden die Ungarn wieder die Waffen in die Hand nehmen und gegen die „Deutschen“ kämpfen. Es sollte anders kommen. Dank des Nachhilfeunterrichts und weil ich eifrig lernte, sprach ich nach einem Jahr fließend Ungarisch und beendete das erste Schuljahr mit sehr guten Noten. Meine Eltern nah