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waren, kann heute nur mehr schwer nachvollzogen werden. Liest man die von der Wehrmachtsführung herausgegebenen „Richtlinien für das Verhalten der Truppe in Rußland“, wird zumindest klar, dass den Soldaten von oberster Stelle ein Feindbild eingetrichtert wurde, das weit über das Ziel einer Steigerung der Kampfmoral hinausschoss und aus Menschen Bestien machte: „Es hie‚ße die Tiere beleidigen, wollte man die Züge dieser zu einem hohen Prozentsatz jüdischen Menschenkinder tierisch nennen. Sie sind die Verkörperung des Infernalischen, Person gewordener wahnsinniger Haß gegen alles edle Menschentum. In Gestalt dieser [kommunistischen] Kommissare erleben wir den Aufstand des Untermenschen gegen edles Blut.“ (Zitiert nach Hannes Heer: Killing Fields. Die Wehrmacht und der Holocaust. In: Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944, S. 67). Solche Textpassagen machen deutlich, dass die Wehrmachtsführung bemüht war, der Truppe die letzten moralischen Schranken im Umgang mit dem Feind aus dem Weg zu räumen. Ja, es kann sogar behauptet werden, dass die Wehrmachtsführung mit ihren rassistischen Parolen einen rücksichtslosen Umgang mit dem Kriegsgegner geradezu herausforderte und damit Verbrechen förderte. Dass die deutsche Kriegspolitik im Osten einer grausamen Logik folgte, ist durch eine weitere Untersuchung bestätigt worden. Christian Gerlach hat in einer umfangreichen und akribisch genauen Studie über die deutsche Wirtschafts- und Kriegspolitik in Weißrussland nachgewiesen, dass die verheerenden Opferzahlen gerade in Weißrussland — von neun Millionen Menschen, die den Deutschen in die Hände fielen, also Kriegsgefangene und Zivilisten, wurden 1,6 bis 1,7 Millionen ermordet — machtpolitisches und wirtschaftliches Kalkül waren. Wie wichtig dabei die Rassenideologie war, geht aus Gerlachs Untersuchung nicht hervor, aus den von ihm aufgearbeiteten Fakten wird jedoch klar, dass eine Dezimierung der ansässigen slawischen Bevölkerung beabsichtigt war. Man ließ einen Teil der Bevölkerung einfach verhungern. Das lag nicht an organisatorischen Unzulänglichkeiten, wie die völkerrechtskonforme Behandlung von 1,9 Millionen französischen Kriegsgefangenen im Jahre 1940 beweist. Alte, Frauen und Kinder galten schlichtweg als „unnütze Esser“. Und mit Juden und als Partisanen verdächtigten Menschen machte man ohnehin kurzen Prozess. Ganze Dörfer und Landstriche wurden ausgelöscht. Gerlachs Buch beweist zudem, dass die Morde nicht nur auf SS und Sonderkommandos zurückgehen, sondern in hohem MaBe von der Wehrmacht verübt wurden. „Knapp über die Hälfte“ der Morde gehen auf ihr Konto. (Vgl. Christian Gerlach: Kalkulierte Morde. Die deutsche Wirtschaftsund Vernichtungspolitik in Weißrussland 1941 bis 1944. Hamburg 1999). Ich habe bei einem Besuch der „Wehrmachtsausstellung“ gehört, wie ein betroffener Besucher, ein fortgeschrittener Geschichte-Student, meinte, dass angesichts der unbegreiflichen Gewalttaten die Erziehung dieser Menschen versagt hätte. Aussagen wie diese sind Ausdruck des Unverständnisses, mit der wir Mitteleuropäer heute dem Zweiten Weltkrieg und seinen vielen Gewaltverbrechen gegenüberstehen. Wie soll man auch begreifen, dass Menschen im Töten von Menschen nicht mehr als eine Pflichterfüllung sehen oder das heute (moralisch) Undenkbare gar als „Mordshetz‘“ verstehen: „Wir sind jetzt fleißig auf der Jagd. Jeden Tag mußten mehrere jüdische Partisanen daran glauben. Da geht's immer wild her. [...] Wir räumen auf mit der Bande, das wäre was für Dich.“ (Brief des Kompaniechefs Windisch an seinen Bruder vom 15. Oktober 1941. Zit. nach Hannes Heer: Killing Fields, S. 63) Man kann nicht glauben, dass der Massenmord zu einer Zeit rechtfertigbar war, und man beginnt an der langen abendländischen Kultur- und Geistestradition zu zweifeln: „Wer weiß denn hier nicht, daß man nicht töten soll?! Das ist doch schon zweitausend Jahre bekannt. Ist darüber noch ein Wort zu verlieren?“ (Ingeborg Bachmann: Unter Mördern und Irren. In: Werke 2. Erzählungen, S. 177). Dennoch will man verstehen und verliert man Worte, um nach Erklärungen zu suchen. Man hört nicht auf zu fragen, liest von der Wiedererweckung des ,,Urmenschen“, von dem Freud gesprochen hat, zieht wirtschaftliche und soziale Erklärungsmuster heran, befragt politische Theorien und landet schließlich bei philosophischen Fragestellungen. Man baut an einem großen Puzzle, das ein neues großes Bild ergeben soll, dessen mühsam zusammengesetzte Steinchen nach der Fertigstellung aber wieder nur ein Bild sichtbar werden lassen, das als Vorlage diente: ein Berg ermordeter Menschen. Was bringen also die Erklärungs- und Aufklärungsversuche? Sie erlösen die Opfer nicht von ihren erlittenen Qualen, machen also bestimmt nichts mehr gut. Es kann deshalb auch nicht um so große Worte wie Gerechtigkeit und Wiedergutmachung gehen. Darum geht es auch nicht. Es geht um das Erkennen, wozu Menschen, die längst über die Sprache verfügen — jenes wichtigste soziale Werkzeug, das die große Aufgabe einer Gesellschaft, das friedliche Zusammenleben, fördern und unterstützen sollte — und mit Hilfe dieser Sprache zu geistigen Höhenflügen ansetzen, in der Lage sind, ganz egal welchen hohen zivilisatorischen Grad sie erreicht haben mögen; oder, um es pathetisch auszudrücken: Es geht darum zu zeigen, was Menschen Menschen antun können. Und dazu kann man nicht schweigen. Freilich handelt es sich im Krieg um eine Extremsituation, in der die historisch gewachsenen Moralvorstellungen auf eine harte Probe gestellt werden. In einer Welt, in der das Töten und die Angst vor dem Getötetwerden zum Alltag gehören, setzt sich die Rücksichtnahme auf den anderen selbst außer Kraft. Man muss begreifen lernen, was Krieg eigentlich bedeutet; wie absurd das Wesen des Krieges ist, das in seinem Kern nicht aus politischen und taktischen Überlegungen besteht, sondern aus dem Prinzip der Gewalt. Wer ständig mit Gewalt konfrontiert wird, wird sich eines Tages mit ihr abfinden. Das rechtfertigt noch immer nicht, dass man selbst Gewalt anwendet oder gar über wehrlose Menschen herfällt, soll aber sagen, dass man auf eine bestimmte historische Situation nicht einfach mit den Augen der Gegenwart blicken darf. Ich habe weiter oben schon darauf hingewiesen, dass den Soldaten eine rassistische Grundhaltung eingeimpft wurde, die wir heute als das Schäbigste verurteilen, die zu dieser Zeit aber als vorherrschende „Weltanschauung“ zumindest unter den Soldaten angenommen werden muss. Amery wusste: „Es gibt kein Naturrecht und die moralischen Kategorien entstehen und vergehen wie die Moden.“ (Jenseits von Schuld und Sühne, S. 32) Ich will damit sagen, dass es in der Kriegssituation zu einer Sprengung der uns heute selbstverständlichen abendländischen Moral gekommen sein muss. (Wichtige „Vorarbeit“ leistete dabei bereits der Erste Weltkrieg, bei dem es zu nie dagewesenen Gewaltexzessen kam und der in der Folge auch die Politik brutalisierte. Vgl. Eric Hobsbawm: Das Zeitalter der Extreme, S. 3.) Die Nazis versuchten ein völlig neues Weltbild zu installieren, in dem der Krieg zum Naturgesetz werden sollte. Sie wollten den Krieg zur einzig gültigen Lebensform erheben, „Recht des Stärkeren“ und die „ewige Auslese des Besseren“ wurden an die Spitze einer neuen Weltanschauung gestellt. Bestimmte Menschen sollten sich über andere Menschen einfach hinwegsetzen dürfen, weil sie die Natur - in Form von Rassen — dazu bestimmt hatte. Der „leuchtend schöne Menschentypus“ sollte mit allen ihm angebracht erscheinenden Mitteln herrschen. Diese Moral war nicht nur auf ein paar Irrsinnige beschränkt, sondern dürfte sich gerade im Krieg recht rasch verbreitet haben. Wie ist es sonst erklärbar, dass es immer wieder Freiwillige gab, die sich zu Erschießungseinsätzen meldeten? Es muss sich ein sadistisches Grundprinzip in den Köpfen dieser Menschen breitgemacht haben, wie denn auch die nationalsozialistische Ideologie insgesamt im höchsten Grade sadistisch zu nennen ist, wenn man den Sadismus existenzialpsychologisch begreift. Nach dieser Auffassung ist der Sadismus kein vorrangig sexualpathologisches Phänomen. Der Sadismus ist demnach dadurch gekennzeichnet, dass ein Mensch seine eigene totale Souveränität verwirklicht. Demnach ist ein Sadist, wer den anderen nicht mehr gelten läßt und sich somit über das Realitäts- und Sozialprinzip hinwegsetzt. „Eine Welt, in der Marter, Zerstörung und Tod triumphieren, kann nicht bestehen, das ist offenbar. Aber es schert sich der Sadist nicht um den Fortbestand der Welt.“ (Jean Amery: Jenseits von Schuld und Sühne, S. 66). 43