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Die Gelegenheit, das eigene Triebpotential auszuagieren, war in diesem Krieg günstig wie nie. Dafür sorgten allein schon die Befehle der Kommandeure, die für die immense Gewaltbereitschaft mitverantwortlich waren. Man hatte die Grenzen der Moral aufgelöst und in eine Vernichtungsmoral transformiert. Jenen Soldaten, die sich austoben wollten, wurden keine Hindernisse in den Weg gestellt. Die völkisch und rassisch definierte Ethik dieser Zeit sorgte dafür, dass man mit den ,,Untermenschen“ machen konnte, was man wollte. Ob ein Mensch seinen Willen, die eigene totale Souveränität jemand spüren zu lassen (und das auf grauenvolle Art und Weise, bis zum Tod), tatsächlich auslebt, hängt ganz entscheidend von den sozialen und ethischen Umständen ab. So bin ich denn auch der Meinung, dass es sich beim Sadismus nicht ausschließlich um das Problem eines Individuums handelt, sondern in ganz beträchtlichem Ausmaß um das Problem einer Gesellschaft. Die gerade in totalitären Gesellschaften besonders zahlreich auftretenden Folterknechte und Mörder beweisen diese These. Der Zweite Weltkrieg hat eindrucksvoll vor Augen geführt, wieviel sadistisches Potential im Menschen steckt. Wenn die soziale Kontrolle, die da sagt, dass man keinen anderen Menschen töten darf, aufgehoben wird, zeigt der Mensch nur allzu schnell sein hässliches Gesicht. Wird die „Ausdehnungslust“ (Améry) des Ichs nicht durch eindeutige Regeln und Gesetze einer Sozietät gezügelt, ist die Gefahr groß, dass der Macht- und Geltungswille einzelner, die bald viele sein werden, dieser Sozietät über den Kopf wächst. Die Konsequenzen werden viele Opfer sein. Es ist heute bewiesen, dass Soldaten der deutschen Wehrmacht wehrlose Menschen ermordet haben. Das heißt nicht, dass alle deutschen und österreichischen Soldaten, die am Feldzug gegen die damalige Sowjetunion oder am Krieg am Balkan teilgenommen haben, Verbrecher waren. Das haben die Ausstellungsverantwortlichen auch mit keinem Wort behauptet. Eine Pauschalverurteilung der Kriegsteilnehmer wäre genauso falsch wie die stumpfsinnige Behauptung der Ausstellungsgegner, eine ganze Väter- und Großvätergeneration sei verunglimpft worden. Polarisiert haben nicht die Autoren der Ausstellung, sondern ihre Gegner, die nicht begreifen konnten, dass es nicht um einen Urteilsspruch der Geschichte ging, sondern um ihre Aufklärung. Wenn heute weite Teile unserer Gesellschaft noch immer nicht mit der Vergangenheit umgehen können, so ist das nur ein eindeutiges Indiz dafür, dass in dieser Vergangenheit vieles passiert ist, womit man heute nichts mehr zu tun haben will. Es ist schon verständlich, wenn ehemalige Soldaten der deutschen Wehrmacht heute nur mehr über im Krieg erlebte Abenteuer, nicht aber über die ausgestandenen Ängste oder selbst begangenes Unrecht sprechen. Das menschliche Bewusstsein funktioniert nun 44 einmal so, dass unangenehme Erfahrungen verdrängt werden und mitunter so weit ins Unterbewusstsein wandern, dass das Individuum selbst davon überzeugt ist, etwas nicht erlebt zu haben. Was die Ereignisse der 1940er Jahre in Weißrussland und anderen Orten im Osten Europas angeht, bestehen gute Gründe, diese Ereignisse aus dem Bewusstsein zu streichen. Wie soll denn auch ein Mensch, der einen anderen Menschen getötet hat, in einer „friedlichen“ (d. h. vom Sozialprinzip geleiteten = den Mitmenschen akzeptierenden und nicht auslöschenden) Sozialsituation weiterleben können, wenn er sein Verhalten nicht irgendwie rechtfertigt („Es war halt Krieg...‘“) oder verdrängt, d.h. aus der Welt bzw. seinem Bewußtsein schafft? Was das menschliche Bewusstsein ausgelöscht oder verfremdet hat, ist dennoch nicht aus der Welt. Die Schüsse überfliegen Tannenzüge. Ein Schuß fällt immer, der im Fleisch verhallt. Und Einer bleibt am Ort, verscharrt in Nadeln und stumm gemacht vom Moos im schwarzen Wald. (Ingeborg Bachmann) Die „Wehrmachtsausstellung“ kann als Versuch gesehen werden, nicht der Funktionsweise des kollektiven Gedächtnisses anheimzufallen, das sich großer Taten rühmt und sich seiner Schändlichkeit nicht mehr bewusst ist. Die Ausstellung „Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944“ wurde bekanntlich im November 1999 vorübergehend zurückgezogen, um angesichts der Kritik, vor allem an der Authentizität des Fotomaterials, einer achtköpfigen Historikerkommission Gelegenheit zu einer Überprüfung zu geben. Die Kommission hat am 15. November 2000 ihren Bericht vorgelegt: Von den 1.400 gezeigten Fotos sind lediglich 20 als nicht zum Thema gehörig beanstandet worden; zwei von diesen 20 zeigen Opfer der NKWD. „Insgesamt konnte“, so der Militärhistoriker Manfred Messerschmidt (,,Aufbau“, New York, 24.11. 2000), ,,festgestellt werden, daß die Kernaussagen der Ausstellung im wesentlichen dem Forschungsstand entsprechen und daß die Kritiker ihre Position überzogen haben.“ Diese Bemerkung bezieht sich auf Bogdan Musial und Kristian Ungväry, die aus der falschen Zuordnung einzelner Fotografien generalisierende Schlußfolgerungen zogen, aber ebenso auf die österreichischen Historiker Stefan Karner und Helmuth Schausberger. Hinzuweisen bleibt in diesem Zusammenhang auf ein Buch, das die konkreten Erhahrungen mit der ‚Wehrmachtsausstellung‘ in Salzburg beschreibt: Helga Embacher, Albert Lichtblau, Günther Sandner (Hg.): Umkämpfte Erinnerung. Die Wehrmachtsausstellung in Salzburg. Salzburg, Wien: Residenz Verlag 1999. 256 S. OS 250,-/DM 34,-/SFr 31,50 Querelles-Net Eine erste deutschsprachige Online-Rezensionszeitschrift fiir Frauen- und Geschlechterforschung im deutschsprachigen Raum unter dem Titel „Querelles. Rezensionszeitschrift für Frauen- und Geschlechterforschung“ ist unter der URL „http://www. Querelles-Net.de“ zu finden. Querelles-Net wird herausgegeben von der Zentraleinrichtung zur Förderung von Frauen- und Geschlechterforschung an der Freien Universität Berlin, Königin-Luise-Str. 34, D-14195 Berlin. Die Nr. 2 (September 2000) erschien mit dem thematischem Schwerpunkt Studien zum Nationalsozialismus und zum Antisemitismus und stellte u.a. folgende Werke vor (Rezensentinnen in Klammer nachgesetzt): Ingrid Strobl: Die Angst kam erst danach. Jüdische Frauen im Widerstand 1939-1945. Frankfurt a. M.: Fischer 1998. (Sabine Happ). Insa Eschebach, Sigrid Jacobeit, Susanne Lanwerd (Hg.): Die Sprache des Gedenkens. Zur Geschichte der Gedenkstätte Ravensbrück 1945-1995. Berlin: Edition Hentrich 1999. (Karin Hartewig). Susanna Keval: Die schwierige Erinnerung. Deutsche Widerstandskämpfer über die Verfolgung und Vernichtung der Juden. Frankfurt a. M.: Campus 1999. (Karin Hartewig). Wolfgang Benz, Hermann Graml, Hermann Weiß (Hg.): Enzyklopädie des NS auf CD-ROM. Berlin: United Media Publishing 1999 (Print-Ausgabe 1998 bei Klett-Cotta: Stuttgart). (Dr. Constanze Jaiser). Vera Neumann: Nicht der Rede wert: Die Privatisierung der Kriegsfolgen in der frühen Bundesrepublik. Lebensgeschichtliche Erinnerungen. Münster: Westfälisches Dampfboot 1999. (Birthe Kundrus). Wagner Bereswill: Bürgerliche Frauenbewegung und Antisemitismus. Tübingen: edition diskord 1998. Wawrzyn, Heidemarie: Vaterland statt Menschenrecht. Formen der Judenfeindschaft in den Frauenbewegungen des Deutschen Kaiserreiches. Marburg: diagonal 1999. Dalia Ofer, Leonore J. Weitzman (Ed.): Women in the Holocaust. New Haven, London: Yale University Press 1998. (Angela Schwarz). CD-ROM: Der Nürnberger Prozeß: Das Protokoll des Prozesses gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof 14. November 1945 bis 1. Oktober 1946. Mit e. Einf. v. Christian Zentner, Berlin: Directmedia Publishing GmbH 1999, CD-ROM. (Vera Ziegeldorf).