OCR
Queenstown, Ontario, drängen sich ihm plötzlich qualvolle Fragen auf: „Während in Auschwitz die Kamine brannten, hatte ich Gedichte geschrieben, und ich hatte damit das Recht verspielt, mein Leben mit Trakl und Hölderlin zuzubringen.“ (S. 347) Seine Überlegungen schließen apodiktisch: „Ich mußte Buße tun, aber wie tut man Buße? Ich mußte nach Israel.‘ (S. 348) Dort, in Haifa, lernt Engelmann Hebriisch, nimmt ein zweites Studium auf und wird Tierarzt. Wer Hans Eichners Emigrationsweg und seine berufliche Tätigkeit als Germanist kennt, wird so manche Parallele mit Peter Engelmann entdecken (den Roman durchziehen literarische Zitate, Querverweise und Anspielungen auf Goethe, Schiller, Eichendorff, Rilke), doch was am Beginn des Romans über die Herkunft des jüdischen Flüchtlings im Wanderwitz gesagt wird, gilt auch dafür: Es kommt nicht darauf an. Schon eher darauf, daß Hans Eichner mit dem Roman „den Wiener Juden, die nach dem ‚Anschluß‘ vertrieben oder ermordet wurden, ein Denkmal setzen“ wollte (S. 367). An Denkmälern hastet man meist achtlos vorbei, doch gerade dieses hat Aufmerksamkeit verdient, beleuchtet es doch das nach wie vor modische Thema Wien um 1900 aus einer bislang kaum beachteten Perspektive: der Alltagsperspektive des jiidischen Wiener Biirgertums. Die ungemein farbigen Bilder, die Eichner von resoluten Miittern, skurrilen Schwadroneuren und stillen Schwärmern, vom ungewöhnlich regen geistigen Leben im jüdischen Wiener Bürgertum und nicht zuletzt vom jüdischen Alltag mit Erew Schabbes, Jom Kippur und Sukkes entwirft, lassen den Leser in eine unwiederbringlich zerstörte Welt eintauchen, denn: „Das Wien, in dem wir lebten, gibt es nicht mehr und wird es nicht mehr geben.“ (S. 311) So kann man das Erscheinen von Hans Eichners Familien-Saga mit einem ,,kein-ahore“ begriiBen, was im Jiddischen soviel wie ,,unberufen“ oder „Gottseidank“ besagt und im Roman mit dem Witz erläutert wird: „Ein alter Mann — man stelle sich ihn im Kaftan vor — wird in einem Prozeß als Zeuge aufgerufen. ‚Wie alt sind Sie?‘ fragt der Richter. ‚Ich bin einundachtzig, kein-ahore‘, sagt der Mann. ‚Wie bitte?‘ fragt der Richter. ‚Ich bin kein-ahore einundachtzig‘, sagt der Mann. „Beantworten Sie meine Fragen ohne Ausschmückungen‘, sagt der Richter. ‚Wie alt sind Sie?‘ ‚Einundachtzig, kein-ahore.‘ ‚Wenn Sie meine Fragen nicht ohne Ausschmückungen beantworten, lasse ich Sie einsperren!‘ brüllt der Richter. ,Gestatten Sie, daß ich die Frage stelle‘, sagt der Verteidiger. ‚Wie alt sind Sie, kein-ahore?‘ ‚Einundachtzig‘, sagt der Mann.“ (S. 173) Beatrix Müller-Kampel Hans Eichner: Kahn & Engelmann. Eine Familien-Saga. Wien: Picus Verlag 2000. 367 8. ÖS 291,-/DM 39,80/SFr 38,80 (Österreichische Exilbibliothek. Hg. von Ursula Seeber). Österreichisch-jüdische Lebensgeschichten Seit Jahren sammelt der Salzburger Historiker Albert Lichtblau im Auftrag des New Yorker Leo Baeck Instituts und des Instituts für die Geschichte der Juden in Österreich österreichisch-jüdische Lebenserinnerungen, die in New York und in einem zusammen mit dem Wiener Sozialhistoriker Michael Mitterauer eingerichteten Archiv österreichischjüdischer Lebensgeschichten aufbewahrt werden. Das Resultat dieser Arbeit, die umfangreiche Anthologie „Als hätten wir dazugehört“, ist ein überaus beeindruckendes Dokument, das sowohl als historisches Quellenmaterial wie auch als berührendes Lesebuch zur österreichische-jüdischen Geschichte von Bedeutung ist. Sein Vorbild war die von der heute in Hamburg lehrenden Sozialhistorikerin Monika Richarz 1976 bis 1982 herausgegebene dreibändige Anthologie „Jüdisches Leben in Deutschland.“ Das Buch ist geographisch gegliedert und beinhaltet Lebensgeschichten aus Galizien, der Bukowina, Mähren, Böhmen, den Alpenländern und Wien aus dem Zeitraum 1848 bis 1918. Lichtblau, der mit vielen österreichischen Juden auch persönliche Interviews führte, stellte die Texte sowohl in seiner ausführlichen und persönlichen Einleitung als auch in den einzelnen Kommentaren in ihren jeweiligen Kontext. Einige der noch nie zuvor veröffentlichten Memoiren, wie etwa die von dem Wiener Oberrabbiner Moritz Güdemann oder von dem Zionisten und Anthroposophen Ernst Müller sind so bedeutend, daß ihre spätere Publikation in Buchform sehr wünschenswert wäre. Die Erinnerungen von Else Bergmann, Antoinette von Kahler und Gertrude Urzidil sind allein wegen den Familien und der Persönlichkeit der Autorinnen auch literatur- und kulturgeschichtlich äußerst wichtige und lesenswerte Dokumente. Bei dem Czernowitzer Lehrer Milo Tyndel, der Czernowitzer und später Wiener Kommunistin Prive Friedjung und dem früheren Direktor des New Yorker Leo Baeck Instituts Fred Grubel hat Lichtblau leider nicht erwähnt, daß deren Erinnerungen inzwischen bereits auch als Bücher publiziert wurden, obwohl er Friedjungs Memoiren selbst bei Böhlau herausgegeben hat. Evelyn Adunka Albert Lichtblau (Hg.): Als hätten wir dazugehört. Österreichisch-jüdische Lebensgeschichten aus der Habsburgermonarchie. Wien, Köln, Weimar: Böhlau Verlag 1999. 664 S. OS 968,-/DM 140,— Eine polnische Jiidin unter Deutschen Wo immer Liebe zum Leben die vielfältigen Greuel des letzten Kriegs, Verfolgung, Hunger, Verlust der Familie, Angst und allgegenwärtigen Tod zu übertönen und zu überdauern vermag, werden Erinnerungsbücher in doppelter Weise interessant: als Zeitzeugnisse, aber auch als wichtige Dokumente ganz persönlicher Lebens- und Überlebenskraft. Im Fall der schönen Polin Zofia Jasinska ist es eine spezifisch weibliche Art, Schicksalsschläge zu überstehen und zu verkraften, in der Verzweiflung sich die Fähigkeit genauerer Wahrnehmung nicht verkürzen zu lassen und selbst durch feindliche Uniformen hindurch Menschen zu sehen. In Krakau als Kind einer wohlhabenden jüdischen Familie geboren, strebt die temperamentvolle Zofia, die mit ihrer Mutter, einer Sängerin, während des Erstens Weltkriegs in Wien lebt, eine Karriere als Schauspielerin und Tänzerin an. Viel zu früh stirbt die Mutter. Es folgen eine Ausbildung in Krakau und Berlin, Engagements als Filmschauspielerin und am Theater, privat allerdings auch Enttäuschungen, Krisen und eine Ehe samt dramatischer Scheidung. Aus Liebe zu einem christlichen Diplomaten tritt sie zum katholischen Glauben über, das Glück bleibt aber aus. Nach der Okkupation Polens durch Deutschland erhält die Künstlerin Auftrittsverbot, gerät in das Warschauer Ghetto, wird dort vom geliebten Vater getrennt und kann sich selbst nur mit Hilfe eines neu ausgestellten Passes retten; ihre jüdische Identität scheint darin nicht mehr auf. Zosias schauspielerisches Talent und ihr Äußeres helfen mit, ein neues Leben zu beginnen, wenn auch unter ständiger Angst, erkannt und verraten zu werden. Auf ein Leben als Schauspielerin muß sie daher verzichten. Nach schwieriger Arbeitssuche nimmt die tapfere junge Frau unter anderem Küchenarbeit bei deutschen Offizieren an, ersetzt mangelnde Kochkünste durch natürlichen Charme und schauspielerische Gewandtheit. Das Ungewöhnliche dieser detailreich geschilderten Lebensgeschichte zeigt sich aber erst an der russischen Front, wohin Zofia zusammen mit anderen Polinnen zum Zweck der Versorgung der deutschen Waffen-SS verschlagen wird. Der Leser staunt über die Fähigkeit, erlittene Qualen und allgegenwärtige Bedrohung in selbstverständliche menschliche Anteilnahme ihren Arbeitgebern gegenüber umzuwandeln. Wo Vorbehalte und Anklage durchaus verständlich wären, geschieht angesichts des Todes das Unfaßbare: Mitgefühl, Verständnis und schließlich echte Liebe zu einem SS-Offizier, der, sensibel und melancholisch, Zofias Zuspruch braucht, und dem sie sich nicht verschließen will. Eine Konsequenz, die sich aus komplizierten, konfliktgeladenen Situationen beider ergibt. Aus dieser Verbindung wird ein Kind hervorgehen, der SS-Mann kommt vom 49