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„Der Welt in die Quere“ „Zwei Monate nach Kriegsbeginn, am Abend des 31. Oktober 1939, ich war damals dreizehn, meine Schwester Silvia drei Jahre älter, nahmen wir am Wiener Südbahnhof, für immer, wie sich herausstellen sollte, von unseren Eltern Abschied.“ Was Erwin Rennert — Autor, Universitätslehrer und bis 1985 Information Officer der Vereinten Nationen in Wien — programmatisch an den Beginn seiner „Gedächtnisübung mit intuitivem Ablauf“ stellt, ist nicht nur ein Auftakt, sondern verweist auf das Drehmoment der autobiografischen Erzählung, auf zwei — quantitativ ausbalancierte — Hälften, die von einem „Davor“ und einem „Danach“ handeln. „Davor“: Das ist die genau archivierte Kindheit in einer jüdischen Familie des unteren Mittelstands, ein geschützter Kosmos in der Topografie von Naschmarkt, Schleifmühlgasse und Margaretenstraße, mit Versatzstücken von Glück: Briefmarkensammlung, Großeltern und Sommerfrische. „Danach“: Im März 1938 wird diese Keimkapsel brutal aufgeschlagen, das Innere nach außen gestülpt. Die Eltern schicken ihre Kinder zu entfernten Verwandten nach New York, wo Rennert als Laufbursche arbeitet. Später reißt er von zu Hause aus, trampt quer durch die USA und bringt sich mit Gelegenheitsjobs durch. Mit der Rückkehr nach Deutschland als alliierter Soldat und der Heirat enden die Aufzeichnungen. Eindringlicher kann kaum vermittelt werden, welchen Lebensbruch das Exil bedeutete und mit wieviel Anpassungfähigkeit und pragmatischer Energie Kinder und Jugendliche mit dem Trauma umgingen. Auch wenn er heute davon berichtet, vermeidet Rennert, in die „Risikolandschaft teils verblichener, teils verdrängter Bilder“ zu geraten (beide Eltern wurden im Holocaust ermordet), und leitet den „verästelten Gedankenstrom‘“ um. Wie Jakov Lind, über dessen Autobiografie Marcel Reich-Ranicki 1970 sagte, Lind erzähle nicht als Opfer oder Chronist vom Überleben, sondern aus der Perspektive des „scheinbar gutgelaunten und fast übermütigen Schelms“ — wie Jakov Lind beherrscht Rennert das Verfahren, sich abseits zu stellen, in die Rolle des Beobachters seiner selbst umzusteigen. Aus der Distanz trifft er einen leichten Ton mit einem Anflug von Selbstironie, das Pathetische oder Bittere wird nie bestimmend. Lesenswert an diesem Buch sind auch die vielen Beispiele für die Akkulturation eines vertriebenen Jugendlichen durch die Literatur, Filme und die zeitgenössische Unterhaltungsmusik Amerikas. Erwin Rennerts Autobiografie ist ein Lehrstück für die Bewältigung von Katastrophen durch Wahrnehmung des Positiven: „A good beginning makes a good ending“ bringt es die New Yorker Ziehmutter Fanny auf den Punkt. Ursula Seeber 52 Eriwn Rennert: Der Welt in die Quere. Lebenserinnerungen 1926-1947. Wien: edition exil 2000. 299 S. öS 180,Ernst Fischer - ein marxistischer Romantiker Unter den linken Intellektuellen, die Österreich im 20. Jahrhundert hervorgebracht hat, ist Ernst Fischer (1899-1972) zweifellos eine der faszinierendsten Erscheinungen. Die Faszination, die von ihm, fast dreißig Jahre nach seinem Tod, immer noch ausgeht (und gar nicht selten mit einer höchst polarisierenden Wirkung verbunden ist) gründet nicht allein auf seinen Schriften und der sprachlichen und gedanklichen Brillanz, die er in ihnen an den Tag leg, sondern vor allem auch auf seiner an Brüchen, an inneren Widersprüchen reichen Biographie. Ernst Fischer war — er selbst hat es in seinen „Erinnerungen und Reflexionen“ zum Ausdruck gebracht - eine in sich zutiefst gespaltene Persönlichkeit, ein zwischen Politik und Kunst Zerrissener. Sein Weg führte ihn von spätexpressionistischen Anfängen als Lyriker und Dramatiker (sein erster Gedichtband, „Vogel Sehnsucht“, erschien bereits 1920, sein erstes Drama, „Das Schwert des Attila“, wurde 1924 im Wiener Burgtheater uraufgeführt) in die Redaktion der Wiener ,,ArbeiterZeitung“. In den frühen 1930er Jahren avancierte er schließlich zu einem der Wortführer einer sich zunehmend radikaler gebärdenden Linksopposition innerhalb der Sozialdemokratie. Nach dem Februar 1934 trat er der KPÖ bei und emigrierte in der Folge in die Sowjetunion. Aus dem sowjetischen Exil bereits im Frühjahr 1945 ins befreite Wien zurückgekehrt, wurde Fischer Staatssekretär für Unterreicht und Kunst im provisorischen Kabinett Renner. War er in jener Periode noch ein weitgehend linientreuer Stalinist (wovon auch sein AntiTito-Stück „Der große Verrat“ von 1949 zeugt), so gelang es ihm, sich im Verlauf der 1950er Jahre in zunehmendem Maß von der starren kommunistischen Parteidoktrin zu emanzipieren. Spätestens aber mit Auftritten wie jenem bei der berühmten Kafka-Konferenz 1963 auf Schloß Liblice oder mit Büchern wie „Kunst und Koexistenz“ (1966) sicherte sich Fischer seinen Ruf als ein häretischer Marxist. In der DDR galt er zu jener Zeit bereits als „gefährlicher Revisionist‘“ und war persona non grata. 1969 schließlich wurde er, nachdem er die gewaltsame Niederschlagung des „Prager Frühlings“ durch sowjetische Truppen als „Panzerkommunismus“ verurteilt hatte, auch aus der KPÖ ausgeschlossen. Befreit von jeglicher Parteidisziplin, vermochte Ernst Fischer in seinem letzten Lebensjahrzehnt den wohl größten intellektuellen Einfluß seines Lebens auszuüben: Seine in dieser Zeit erschienenen Schriften erregten vielfach internationales Aufsehen und wurden auf breiter Basis diskutiert. Fischer hat zweifellos ein umfangreiches, ein heterogenes (Eeuvre hinterlassen; es umfasst Gedichte ebenso wie Manifeste, Essays und breit angelegte Studien zur modernen Kunst und Literatur ebenso wie Romanfragmente, Nachdichtungen (etwa von Baudelaire und Verlaine) ebenso wie Polemiken und Rezensionen. In Form einzelner Bände der ab 1984 von Karl Markus Gauß und Ludwig Hartinger herausgegebenen, unabgeschlossen gebliebenen Werkausgabe sind immerhin noch einige der wesentlichsten Schriften Ernst Fischers (wie etwa die Portraitsammlung „Von Grillparzer zu Kafka“ oder der Essayband „Von der Notwendigkeit der Kunst“) greifbar. Nichtsdestotrotz hat es den Anschein, dass selbst diese bekannteren Texte des Autors zunehmend in Vergessenheit geraten, und dass sie zwar allenthalben noch gerne zitiert, aber wenig gelesen werden. Umso begrüßenswerter ist es, dass Bernhard Fetz vom Österreichischen Literaturarchiv heuer einen umfangreichen Materialienband zu Ernst Fischer herausgegeben hat und für dieses Unterfangen eine prominente Beiträgerschaft (u.a. Terry Eagleton, Jürgen Egyptien, Alfred Pfoser, Thomas Rothschild, Burghart Schmidt, Wendelin Schmidt-Dengler) gewinnen konnte. Beleuchtet werden in den einzelnen Aufsätzen sowohl die ästhetischen Überlegungen des sich unermüdlich an marxistischen Dogmen abarbeitenden Marxisten als auch die politische Rolle, die dieser im „Neuen Österreich“ gespielt hat, darüber hinaus wird den unterschiedlichsten Aspekten und Segmenten von Fischers Biographie — so etwa seinen Freundschaften mit Hanns Eisler und Georg Lukacs — Aufmerksamkeit gewidmet. Einzig die Zeit des sowjetischen Exils, das für Ernst Fischer elf lange Jahre währte, ist — bedauerlicherweise — aus dem vorliegenden Materialienband nahezu gänzlich ausgeblendet. Besonders aufschlussreich, was die langwierige Entwicklung Fischers zum Theoretiker einer modernen marxistischen Ästhetik betrifft, erscheinen mir die beiden, einander partiell überschneidenden Artikel von Egyptien und Pfoser, in denen vor allen Dingen auf Fischers literaturkritische Arbeit der 1920er Jahre eingegangen wird. Deutlich wird dabei, dass dieser damals bereits ansatzweise Standpunkte vertrat und literaturtheoretische Maximen entwickelte, die er später, in seinen großen Schriften aus den 1960er Jahren, wiederaufgreifen und ausbauen sollte. Fischer war, wie Alfred Pfoser deutlich macht, bereits in den 1920er Jahren den Experimenten einer radikalen Moderne gegenüber aufgeschlossen gewesen, und er hat diese Aufgeschlossenheit in seinen späten Jahren, nachdem er zu dem ihn lange Zeit leitenden Realismusbegriff Georg Lukäcs’ bereits Distanz gewonnen hatte, erneut und ungleich reflektierter unter Beweis gestellt. Des weiteren hervorhebenswert unter den