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Beiträgen des vorliegenden Bandes erscheint mir auch der Aufsatz von Wendelin SchmidtDengler, der sich Fischers noch in der Emigration publiziertem, 1945 in schließlich auch in Wien erschienenem Essay „Die Entstehung des österreichischen Volkscharakters“ widmet, einem heute weitgehend und zu Unrecht vergessenen (auch in der Werkausgabe von Gauß/Hartinger nicht enthaltenen) Text, der zeigt, wie stark auch der Kommunist Ernst Fischer Gefahr lief, in die Nähe restaurativer Österreich-Ideologien zu geraten. Denn auch in seinem Essay ist die Tendenz, den Nationalsozialismus als ein genuin deutsches und damit gewissermaßen „unösterreichisches“ Phänomen zu betrachten, unübersehbar. In letzter Kosequenz jedoch geht das von Fischer in der erwähnten Schrift gezeichnete Bild von Österreich und seiner Geschichte mit den restaurativen Österreichentwürfen jener Zeit nicht konform, und zwar insofern nicht, als Fischer vor allem darum bemüht war, den Beweis für die Progressivität Österreichs im Politischen, und nicht bloß im Kulturellen, zu führen. Abgerundet wird der Sammelband durch Proben aus den Korrespondenzen Ernst Fischers mit Georg Lukäcs und dem englischen Kunsthistoriker und Schriftsteller John Berger, den mit Fischer eine enge Freundschaft verband, sowie durch die Wiedergabe einiger Artikel, welche der junge sozialdemokratische Intellektuelle in den 1920er Jahren für den Grazer „Arbeiterwillen“ und die Wiener „Arbeiter-Zeitung‘“ verfasst hat. Den Aufsätzen und Studien vorangestellt sind Erinnerungsartikel u.a. von Barbara Coudenhove-Kalergi und Marina FischerKowalski, der Tochter Ernst Fischers und Ruth von Mayenburgs, Texte, in denen hinter dem Politiker, dem populären Rhetoriker die private Gestalt einigermaßen sichtbar wird. Als Fazit bleibt zu vermerken, dass dieses Buch, welches neben dem 1980 von Helmuth A. Niederle herausgegebenen Sammelband mit Erinnerungen an und Beiträgen über Ernst Fischer wohl ziemlich einzig dasteht, eine Einführung in Leben und Werk dieses unorthodoxen marxistischen Denkers nicht ersetzen kann. Wohl aber ist es dazu geeignet, einer erneuten Beschäftigung mit dem so facettenreichen Werk dieses marxistischen Denkers wesentliche Impulse zu geben. Christian Teissl Bernhard Fetz (Hg.): Ernst Fischer. Texte und Materialien. Wien: Sonderzahl Verlagsgesellschaft 2000. 251 5. ÖS 248, /DM 34,(Österreichisches Literaturarchiv — Forschung 4). Ein ostjüdisches Leben Im Februar 1998 verbrachte der junge deutsche Journalist Michael Martens mehrere Tage in Czernowitz, um den jiddischen Schriftsteller Josef Burg eingehend über dessen ungewöhnliches Leben zu befragen. Das Ergebnis dieser Gespräche veröffentlichte Martens zuerst in Interviewform in diversen Zeitschriften („Czernowitz darf nicht untergehen“, Allgemeine Jüdische Wochenzeitung, Bonn 1/1999; „Nicht der Letzte sein“, Lettre International, Herbst 1999). Ergänzt mit einer kurzen persönlichen Einleitung, liegt dieses Interview nunmehr als Buch mit dem Titel ,Irrfahrten — ein ostjiidisches Leben‘ vor. 36 Seiten des mit 61 Seiten recht schmalen, aber schön edierten Buches, gewähren Einblicke in Josef Burgs Leben, die ihn — wie Martens treffend formuliert — aus heutiger Sicht als ‚Zugereisten aus einer anderen Zeit‘ erscheinen lassen. Geboren 1912 im bukowinischen Wischnitz, das als Residenz einer berühmten Rabbinerdynastie sowie als Stetl mit über 90% jüdischer Bevölkerung eine Hochburg des Chassidismus war, genoß Josef Burg eine streng jiidisch-orthodoxe Erziehung. Als der Zwölfjährige mit seinen Eltern nach Czernowitz übersiedelte, erschien ihm die nur 80 Kilometer entfernte Stadt als eine andere Welt. Dort beendete er die Schule und das Lehrerseminar, ohne sich jedoch, wie so viele andere, an die deutschsprachige Kultur des Czernowitzer jüdischen Bürgertums zu akkulturieren. Er blieb seiner Muttersprache treu und veröffentlichte 1934 seine erste Erzählung in der jiddischen Zeitung ‚Czernowitzer Bleter‘. In den Jahren 1935 bis 1938 studierte Burg Germanistik in Wien, wo er neben Antisemitismus auch die tiefe Verachtung erfahren mußte, die große Teile des assimilierten jüdischen Bürgertums den Ostjuden entgegenbrachten. Zurück in Czernowitz konnte Burg noch zwei Bücher veröffentlichen, ehe er 1941 mit der Roten Armee in die Sowjetunion ging, um den in die Nordbukowina einmarschierenden rumänischen und deutschen Truppen zu entkommen. Burg weist selbst darauf hin, er verdanke es der Sowjetunion, als einziger seiner Familie der Vernichtung entgangen zu sein. Andererseits habe ihn dieser Staat die folgenden vierzig Jahre hindurch daran gehindert, Bücher zu publizieren, wodurch ihm die schriftstellerisch produktivsten Jahre geraubt wurden. Burg, der als Lehrer in Rußland arbeitete und 1959 nach Czernowitz zurückgekehrt ist, konnte lediglich Erzählungen in diversen jiddischen Zeitungen Osteuropas veröffentlichen, weigerte sich jedoch konsequent, an ‚antizionistischen Kampagnen‘ teilzunehmen, — im Gegensatz zu manchen seiner jüdischen Schriftstellerkollegen. 1980 konnte Burg schließlich wieder ein Buch in Moskau herausbringen. Seit 1989 erfährt sein Werk durch Übersetzungen und Veröffentlichungen in westlichen Verlagen, sowie durch zahlreiche Lesereisen durch Europa und Israel eine späte Anerkennung und Würdigung. (Zur Rezeption des Werkes von Burg vgl. Peter Rychlo [Hg.]: Gabenreicher Herbst — Materialien zu Leben und Werk von Josef Burg. Chernivtsi 2000.) 1990 erweckte Burg mit Unterstützung aus Österreich die ‚Czernowitzer Bleter‘ wieder zum Leben, die seither auf Jiddisch und Russisch in einer monatlichen Auflage von 1.500 Exemplaren erscheinen. Was immer heute noch an jiddischer Kultur in Czernowitz zu finden ist, existiert allein dank Josef Burg. Die Frage nach ihrer ungewissen Zukunft beantwortet er mit einer Zuversicht, die wohl die Quintessenz all seiner Lebenserfahrungen darstellt: „Es geschehen Wunder.“ Leider verwendet Martens in seinem Nachwort den etwas unsensiblen Vergleich, Burg warte auf einen jungen jiddischen Schriftsteller, der sein Erbe antreten könne ,,... wie auf den Messias.“ Martens stellt seinem Interview mit Josef Burg einen Essay mit dem unklaren Titel ‚Nach dem ‚Sturm‘ voran, in dem er seinen Aufenthalt in Czernowitz und einen Ausflug in Burgs Heimatdorf Wischnitz beschreibt. Abgesehen von einem Ausrutscher ins Triviale (,,...rotbraun wie das Haar einer bukowinischen Dorfschönheit tröpfelt das Wasser aus dem Hahn im Badezimmer.‘‘), zeichnet diese Einführung in ihrer nüchternen Sachlichkeit ein gutes Stimmungsbild der tristen und ganz und gar unromantischen Lebenswirklichkeit des heutigen Czernowitz. Die Tristesse, die alle Lebensbereiche durchdringt, bis hin zu den Buchhandlungen, in denen auch Josef Burgs Bücher ungekauft bleiben, und die noch bedrückender wirkt, wenn sie der um die Geschichte der Stadt wissende Besucher mit Bildern und Schilderungen früherer Tage vergleicht, — diese allgegenwärtige Lethargie also, versteht Martens in knappen Worten gekonnt zu vermitteln. Es ist daher umso bedauerlicher, daß sich in die 14 Seiten seines Textes etliche Fehler eingeschlichen haben, deren teilweise Geringfügigkeit sie nicht davor bewahren soll, hier kurz aufgezeigt zu werden: das Hotel Kiew, in dem Martens abstieg, hieß früher nicht ‚Imperial‘, sondern in österreichischer Zeit ‚Central‘ und danach ‚Palace‘. Umgekehrt heißt der frühere Ringplatz heute nicht etwa ‚Marktplatz‘, sondern Zentralplatz. Der Czernowitzer Tempel wurde nicht, wie Martens behauptet, 1908 in Anwesenheit von Kaiser Franz Josef seiner Bestimmung übergeben, sondern schon 1877, und ohne allerhöchste Gegenwart. Die Sowjets, die 1944, und nicht 1947 die Macht in Czernowitz übernommen haben, versuchten zwar, wie Martens richtig schreibt, vergeblich den Tempel zu sprengen. Allerdings wäre hier anzumerken gewesen, daß der Tempel zu diesem Zeitpunkt nur noch eine Ruine war, nachdem er bereits 1941 von den rumänisch-deutschen Besatzern in Schutt und Asche gelegt worden war. Schließlich sei hier noch ein begriffliches Problem ange53