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Verborgte Sprache — der Titel ist dem kleinen Essay von Anna Kim entnommen, der in diesem Heft abgedruckt ist; sie und Ljubomir Bratic beschäftigen sich, von verschiedenen Voraussetzungen ausgehend, mit dem Recht auf Sprache, dem Recht, sie sich auszuborgen für eigenen Gebrauch und sie zu behalten, so daß sie also eine verborgte ist, auf Dauer, nicht mehr rückforderbar. Wenn Anna Kim die Irritationen beschreibt, die sie als eine vollkommenes Deutsch Sprechende und Schreibende mit ihrem asiatischen Aussehen auslöst, verweist sie auf eine innere Verkrampfung der deutschen Sprache, die in der bewußten und unbewußten Auffassung besteht, den wahren Geist des Deutschen könne nur fassen, wer auch seiner Herkunft nach deutsch sei. Geltend gemacht wurde und wird dies, fast schon zwei Jahrhunderte lang, gegen jüdische Autorinnen und Autoren, denen die Fähigkeit abgesprochen wurde, wahrhaft deutsch zu fühlen. Nicht in der Sprache, sondern mit der Sprache habe ein Heinrich Heine sein frivoles Spiel getrieben; nicht Heiligtum sei sie ihm gewesen, an dessen Schwelle er verstummen hätte müssen, sondern Instrument literarischer Produktion. Im Namen einer mystischen Tiefe wurde Schweigen geboten, als noch Zeit zum Reden war. Nicht unbeschadet blieb die Sprache durch diesen Angriff; wurde sie damit doch, wir haben es schon einmal geschrieben, auf einen „Ausweis der Volkszugehörigkeit“ heruntergebracht. Daß eine Zeitschrift, in der es um die Literatur und Kultur des Exils und des Widerstands geht, dem Schreiben deutschsprachiger AutorInnen nichtdeutscher Muttersprache ein Forum bietet, ist nicht selbstverständlich. AutorInnen, die in den letzten Jahrzehnten aus anderen Ländern nach Österreich, Deutschland oder in die Schweiz gekommen sind, freiwillig oder aufgrund von Verfolgungen, kann man nur mit größter Vorsicht mit den AutorInnen vergleichen, die vor Faschismus und Nationalsozialismus aus ihren Heimatländern flüchten mußten. Der Vergleich könnte zu wenig besagenden Verallgemeinerungen führen, wie der, daß es eben überall auf der Welt immer Flüchtlinge gibt, sowie Menschen, die durch materielle Not zur Auswanderung gezwungen werden. Das unverbindliche Bedauern eines Weltzustandes, in dem solches fortwährend geschieht und geschehen muß, verwischt unsere eigenen Spuren und Konturen, relativiert die Singularität des unter der Herrschaft des Nationalsozialismus Geschehenen und der Anstrengung, ihn niederzuwerfen. Auf diese Singularität ist gegenüber dem Drang zur Verallgemeinerung zu bestehen, einer Verallgemeinerung, die uns aus dem konkreten geschichtlichen Zusammenhang in eine vermeintliche Freiheit, Unbelastetheit von Ursache und Folge katapultiert, die in Wahrheit bloß eine Beliebigkeit in den Schranken undurchschauten Zwangs zu sein vermag. Und doch können wir, die wir uns mit den Verfolgten und Vertriebenen der nationalsozialistischen Periode verbunden fühlen, unsere Sympathie und unser Verständnis für die, die heute als Flüchtlinge und Immigranten leben müssen oder wollen, nicht verhehlen, unsere Bewunderung für ihre Tatkraft, ihre Intelligenz, ihren Erfindungsgeist nicht verbergen. Der Blick, den sie auf die Lebensverhältnisse in unseren Heimatländern werfen, ist uns als einer, der das selbstverständlich Scheinende nicht als solches hinnimmt, ein noch ungeborgener Schatz lebensnaher Erkenntnis. Der Gebrauch, den sie von der deutschen Sprache machen, ist uns als Öffnung ihrer Grenzen, als Aufreißen ihrer allzu harten Ränder unmittelbare Bereicherung. Da kommt manches Wort wie von ferne her und ist uns darin wieder nah. Und neugierig sind wir allemal auf das Mitgebrachte, nicht allein auf den riesigen Stoff, der aus den Erfahrungen der Flüchtenden und Wandernden gewebt ist, auch auf die ungekannten Menschenlandschaften, zu denen uns neue Zugänge geschaffen werden. Wir haben umgekehrt unsere Hintergedanken: Wer in deutscher Sprache schreibt, tritt in den Streit ein, der in den Kulturen Österreichs, Deutschlands, der Schweiz tobt, der kann sich nicht gleichgültig verhalten, der muß vom Nationalsozialismus und vom Widerstand gegen ihn, von Massenmord und Massenflucht Kenntnis nehmen, auch wenn ihn eine Bitterkeit erfüllt, die aus anderer Quelle rührt. Wir glauben, die Konfrontation sogenannter Migrationsliteratur mit der deutschsprachigen Exilliteratur kann nur produktiv, anregend und ermunternd sein. Aufgrund der Fülle der uns zugegangenen Beiträge wird diesem ersten Schwerpunktheft Verborgte Sprache bald ein zweites folgen, mit weiteren Beiträgen zum Schwerpunktthema von Zehra Cirak, Alexander S. Emanuely, Dana Grigorcea, Helmuth A. Niederle, Tamar Radzyner, Hannes Schweiger, Vladimir Vertlib, Richard Wall, Ljubo Ruben Weiss u.a. Im vorliegenden Heft haben wir bewußt die Reflexion in deutscher Sprache Schreibender nichtdeutscher Muttersprache einer Reihe von Erzählungen, die Fluchtbewegungen höchst unterschiedlicher Art beschreiben, und den eher wissenschaftlichen Resümees vorangestellt. Dabei werden den aufmerksamen LeserInnen gewisse Inkongruenzen zwischen der Selbstdarstellung unserer AutorInnen und ihrer literaturwissenschaftlichen Würdigung auffallen, und ebenso Inkongruenzen zwischen der Sprache, in der wir im allgemeinen über Probleme der Immigration, Identität, Integration, von Multikulturalität, von Minderheiten und dergleichen reden, und der Sprache, in der sich selbstbewußte Immigranten über ihre Situation und ihre relative Rechtlosigkeit verständigen. All diese Begriffe sagen oft mehr über die soziale und politische Position dessen aus, der sie gebraucht, als über die realen Vorgänge, die sie zu beschreiben vorgeben. Nehmen wir nur das geläufige Wort „Minderheiten“: Es setzt eine Mehrheit, ein Mehrheitsvolk in einem ethnisch und kulturell möglichst geeinten Staat voraus. Und es überträgt das Verhältnis von Mehrheit und Minderheit, wie es in einer politischen Versammlung oder sonst beim Fassen eines Beschlusses besteht oder entsteht, auf die Zusammensetzung der Bevölkerung, als finde in dieser eine Art ethnische Volksabstimmung statt, bei der jedes Neugeborene einmalig und unmündig sein Wahlrecht ausübt. Es ist ein unsichtbarer Krieg, der heute an den Mauern Europas entbrannt ist. Von Wächtern mit scharfen Hunden und Nachtsichtgeräten, von Hubschraubern und Schnellbooten geJagt, ertrinken täglich Flüchtlinge, deren überfüllte Boote gekentert sind, oder ersticken unter der Ladung von Lastwägen. „Schlepper“ werden als Schwerverbrecher verfolgt, Fluchthelfer kriminalisiert. Und all dies in einem Europa, das zuvor in alle Welt seine Menschen, seine Herrschaftsansprüche, seine Waffen ausspie und nicht aufgehört hat, das Elend mit zu verursachen, das es von seinen Grenzen weist! Siglinde Bolbecher, Konstantin Kaiser