Ein Einzelgänger, ein Außenseiter sei Michael Guttenbrunner
gewesen. Mich hat er zwar nicht in seine Gesellschaft gezogen
- erst in der letzten Zeit freundeten wir uns ein wenig an —, aber
das Talent und der Drang zur Geselligkeit waren ihm durchaus
eigen, ihn umgab ein weit verzweigtes Netz der Freundschaften,
unabhängig von dem zufällig gemeinsamen oder entfernten
Wohnsitz. Unermüdlich hielt er die Verbindungen aufrecht zu
seinen Freunden und anderen Menschen, die ihm wichtig schie¬
nen, durch seine Briefe, oft nur kurze, korrigierende oder an¬
erkennende Zurufe, und die Einsamkeit, die er sich lobte, war
ihm nicht Loslösung von den anderen, vielmehr der andere Pol
der geselligen Pflichten, denen er sich gerne und ohne Ein¬
schränkung unterwarf. Ihm war die Vereinigung mit Gleichge¬
sinnten Bedürfnis, wie immer er sich darin befangen oder gar
gehemmt fand. Zu rühmen ist die Treue, mit der er den langjäh¬
rigen Freunden, den toten und den lebendigen, anhing, ob sie
nun ihrerseits von ihm noch Kenntnis nahmen oder nicht. Ihm
war es wirklich nicht um das Alleinsein oder gar um ein als
Geisteshöhe stilisiertes Alleinbleiben zu tun. Er wollte unter
Menschen kommen und war unter ihnen.
Wirkliche Einzelgänger dagegen finden wir oft genug in ge¬
schäftigstem Zusammenhang mit den Mitmenschen, kaum daß
sie sich aus dem Schwall lösen. Aber was sie wollen und an¬
streben, behalten sie für sich; wo sie mitteilsam sind, teilen sie
nicht mit, und ihr Schweigen ist nicht Abkehr, sondern Einver¬
ständis. Es ist ein Schweigen, das die einen deckt und den an¬
deren die Teilnahme versagt. Das Ausschließen war Michael
Guttenbrunners Sache nicht; ihm wäre es bei einer Tischge¬
sellschaft wenig erträglich gewesen, eines ins Verstummen ab¬
rutschen zu sehen.
Unbeirrbarkeit mag man Guttenbrunner nachsagen, und
Konsequenz, wenngleich seine Unbeirrbarkeit nicht die des
Geschoßes war, das seine vorherbestimmte Flugbahn durch¬
läuft. Guttenbrunners Entwicklungsgang war durch Lebens¬
und Schaffenskrisen gezeichnet, die nicht allein durch die Ver¬
folgungen, denen er in seiner Jugend ausgesetzt war, ausgelöst
waren. Der Übergang von seinen spätexpressionistisch anmu¬
tenden ersten Schriften zu den „Ungereimten Gedichten“ und
zur „Lichtvergeudung“ ist ein veritabler Bruch, der sich vor al¬
lem im Wandel der Form erweist, ist keine Auswechslung von
Kulisse und Personal auf der Grundlage steter Dieselbigkeit.
Perioden höchster Produktivität folgten Zeiten, in denen er sich
an den Rand endgültigen Verstummens gedrängt sah. Bei Gut¬
tenbrunner ist, was er schrieb und nicht schrieb, gleichermaßen
von Belang; so wie, nach einer kabbalistischen Überlieferung,
auch der von den Buchstaben umschriebene Leerraum zu le¬
sen wäre. Guttenbrunner sparte vieles aus, erwähnte es nicht,
zog es nicht hinein; auch ließ er Platz neben sich für andere,
deren Stimmen er nicht übertönen, deren Zeugnis er nicht durch
das seine ersetzen wollte. Der Drang zur Geselligkeit ist in die¬
ser Hinsicht auch in seinen Schriften mit Energie am Werk, als
Gleicher unter Gleichen sagt er mit Entschiedenheit, was ist,
Stimme unter Stimmen, die schon gesprochen haben oder sich
erst erheben werden.
Der Widerspruch, in dem Michael Guttenbrunner lebte, war
nicht der des Außenseiters, der im Gegensatz zum Gewöhn¬
lichen, Normalen, zur sogenannten Gesellschaft zu stehen
scheint. Den Widerspruch trug Guttenbrunner in sich und wu߬
te um den Prozeß, in den er verwickelt war. Ans Ende der Ge¬
dichtsammlung „Lichtvergeudung“ setzte er den „Schluß“:
Nicht ewig sinnlos wie des Meeres Brandung,
die sich gebiert zu immer neuer Strandung,
geschehen Lust und Schmerz in unsrer Brust.
Von nun an rein und heilig wie die Firne
stehn über uns die leuchtenden Gestirne
der Wiederliebe und der Aberlust.
Hier gibt er sich die Würde der Persönlichkeit, die den Wider¬
spruch in sich aushält und aus ihm und nicht gegen ihn den Sinn
des Daseins schöpft. Der Anklang an die Manier klassischer
deutscher Dichtung ist in diesen Zeilen nicht zufällig. Und wel¬
cher Normalität hätte sich Guttenbrunner denn entgegensetzen
können — etwa der Normalität der Verdrängung und der from¬
men Wünsche, daß alles irgendwann wunderbar ausgetauscht
und vorbei sei? Nationalsozialistische Literatur- und Kunstübung
und das, was ihnen voranging, hatten das Idyllische und das He¬
roische auseinandergerissen, ließen, wie Berthold Viertel in sei¬
ner Notiz über den „Reichskanzleistil‘‘ auf dem Theater einmalig
sagte, zwischen pathetischem Gebrüll und intimem Geflüster,
die unvermittelt ineinander umschlugen, keinen Raum für den
ganzen Reichtum menschlicher Modulation. Durch die ent¬
standene Kluft, die Verkrampfung des Gefühls ins Allernächste,
Familiäre auf der einen Seite, den Mißbrauch der Neugier und
des Muts zum gewaltsamen Griff ins Weite auf der anderen Sei¬
te, fuhren die Deportationszüge in die Konzentrations- und Ver¬
nichtungslager, ohne daß ein Widerhall war in Literatur und
Kunst. Ausgesetzt auf das Wuchern des Toten, aber auch auf die
Berge des Herzens, schrieb Guttenbrunner angesichts des in sei¬
nen furchtbaren Folgen fortwirkenden Massenmords und des in
immer neuem Glanz sich gebärenden Kosmos. Guttenbrunner
stellte sich der schwierigen Aufgabe, die häßliche Kluft wieder
zu schließen, das Schöne nicht vom Schrecklichen zu trennen,
die Sphäre des Menschlichen wieder zu gewinnen. Er war darin
nicht der einzige, doch stand er oft genug allein auf weiter Flur.
Und, wieder mit Berhold Viertel, können wir von ihm sagen:
Den Besten seiner Zeit genug getan zu haben,
Erst dann zu enden: war der Wunsch des Knaben.
Den Schlimmsten seiner Zeit kein Jota vorenthalten
An Zorn und Widerstand: das ist der Wunsch des Alten.
Am 12. Mai 2004 ist Michael Guttenbrunner in Wien überra¬
schend gestorben. Es war eine Krise, die nach einer kaum über¬
standenen Lungenentzündung eingetreten ist; hätte er sie über¬
lebt, wären ihm noch Jahre beschieden gewesen. Wer ihn bei
den Veranstaltungen zum Theodor Kramer Preis und bei den
Michael Guttenbrunner-Disputationes in der Österreichischen
Gesellschaft für Literatur gehört und erlebt hat, geistesgegen¬
wärtig, voller Aufmerksamkeit und mit kräftigem Organ vor¬
tragend, wird dem zustimmen. Wo Michael Guttenbrunner war,
ist jetzt ein Riß, durch den es kalt hereinweht. Am 28. Mai wur¬
de er auf dem Heiligenstädter Friedhof in Wien-Döbling be¬
graben.