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In der Darstellung der Lebensgeschichten Ernst und Hilde Federns habe ich mich massiv mit dem psychotischen Kosmos der Konzentrationslager und der Katastrophe der Shoah auseinanderzusetzen gehabt. Die Geschichte der nationalsozialistischen Rassen- und Verfolgungspolitik und der stalinistischen Klassenund ebenfalls Verfolgungspolitik sind als gewaltiger Zivilisationsbruch zu werten, nach dem der Fortschritt der Menschheit nicht mehr glatt und eindimensional gedacht werden kann. Es ist nicht nur zu konstatieren, daß Destruktionskräfte das 20. Jahrhundert wahrscheinlich stärker bestimmt haben als humanistische und sozial verantwortliche Kräfte, wir sollten uns auch eingestehen, daß totalitäre Kräfte in einem unerträglichen Ausmaß in authentischen, freiheitlichen und gesellschaftlich verantwortlichen politischen Strömungen gewirkt haben und diese fehlgeleitet haben. Die Tragödie des Humanismus symbolisiert sich geradezu paradigmatisch in den Problemen des Widerstands- und Überlebenskampfes in den Konzentrationslagern. Ein großer Teil des Mordprogramms der Nazis wurde auf polnischem Gebiet durchgeführt. Die Eliten Polens wurden in den Konzentrationslagern gebrochen, und die Vernichtung des ost-, aber auch westeuropäischen Judentums wurde in großem Ausmaß in den Todesfabriken im sogenannten Generalgouvernement vollzogen. Obwohl der polnische Untergrund Großartiges geleistet hat, vermochte er die mörderischen Okkupatoren nicht aus eigener Kraft zurückzuschlagen. Vielmehr hat das tragische Ende des Warschauer Ghettoaufstandes und vor allem des Warschauer Aufstandes dazu beigetragen, daß die sowjetischen Sieger eine zu schwache politische Führung vorgefunden haben und Polen entgegen seinen politischen Traditionen in ihren Machtkomplex einfügen konnten. Die nationalsozialistische Besetzung Polens konnte nur von der Roten Armee beendet werden, die zuvor und danach selbst Besatzungsarmee war. Der verbrecherische und völkermordende Krieg ließ wenig Spielraum, und die totalitären Regimes verfolgten alle Zeichen politischer Selbständigkeit. Die totalitären Diktaturen des 20. Jahrhunderts zerbrachen letztlich an der Überspannung ihrer Kräfte: NS-Deutschland im „totalen Krieg“, das Sowjetsystem im wirtschaftlichen und militärtechnischen Konkurrenzkampf mit der westlichen Welt. Der Beitrag politischer Bewegungen am Niedergang des Sowjetsystems war zweifellos höher als beim Zusammenbruch des NS-Regimes, aber ob er entscheidend war, mögen andere beurteilen. Die verbliebene, gedemütigte Opposition konnte das NSRegime nicht beseitigen. Eindrücklich zeigt sich das am Schicksal der ums Überleben kämpfenden KZ-Häftlinge. Ich möchte diese Tragödie an einem besonderen Beispiel aus Auschwitz zeigen. Rudolf Vrba berichtet, daß ein einziges Mal die Möglichkeit zu einem gewalttätigen Aufstand in Auschwitz bestanden hat, der die Mordfabrik zum Stocken hätte bringen können. Im Herbst 1943 wurden Juden aus Theresienstadt nach Auschwitz deportiert und dort erstaunlicherweise sechs Monate zusammen im sogenannten „Familienlager‘“ untergebracht. Das hatte 10 Auschwitz noch nie erlebt, daß Juden an der Rampe nicht selektiert wurden und Männer, Frauen und Kinder, Alte und Junge, Kräftige und Schwache zusammen in einem Lagerabschnitt untergebracht wurden. Der Auschwitzer Widerstand verstand zuerst nicht, was hier geschah. Dann fand man heraus, daß die Häftlinge in Theresienstadt von einer Rot-KreuzKommission visitiert worden waren, und die Nazis nun fürchteten, das Rote Kreuz würde weiter nachforschen. Daher hielt die Auschwitzer SS diese Häftlinge weiter zur Verfügung. Über diese Deportierten aus Theresienstadt waren „sechs Monate Quarantäne mit Sonderbehandlung“ verhängt. Sechs Monate sollten sie, ohne zu externen Arbeitskommandos eingeteilt zu werden, im „Familienlager“ bereitgehalten weden, um im Frühjahr 1944 vergast zu werden. Die Widerstandsorganisation entdeckte, daß es unter den „Theresienstädtern“ einen kampfkräftigen Kern von ca. 30 Menschen gab, der in der Lage sein könnte, vor den Gaskammern den Kampf mit der SS aufzunehmen. Der Widerstand war elektrisiert von der einmaligen Chance, die Schlachtbank zumindest zu beschädigen und nicht andauernd zusehen zu müssen, wie Wehrlose „wie Schafe zur Schlachtbank getrieben werden“. Die sogenannten „Arbeitsjuden“ der ,,Sonderkommandos“, die die Leichen aus den Gaskammern ins Krematorium zu transportieren hatten, waren bereit, am Aufstand teilzunehmen, weil sie voraussehen konnten, als Mitwisser des Massenmords bald selbst ermordet zu werden. Die 30 aktionsfähigen Widerständler unter den ,,Theresienstädtern“ gehörten verschiedensten politischen Lagern an und waren daher nicht leicht zu einer Tat zu bewegen. Der Auschwitzer Widerstand erkannte aber in Freddy Hirsch jene charismatische Persönlichkeit, die das Zeug haben könnte, eine Aktion am absoluten Abgrund zu führen. Freddy Hirsch war Turnlehrer, deutscher Jude, der nach Prag emigriert war; er war nicht politisch wie die Kader der 1930er Jahre, war als Jude nach Theresienstadt deportiert worden und hatte sich dort in der Erziehung der Kinder verdient gemacht. Daher war er unter den „Iheresienstädtern“ eine anerkannte Persönlichkeit, die in der Lage war, sie zu führen. Als klar war, daß die Theresienstädter Juden am 7. März 1944 vergast werden sollten, gab Rudolf Vrba Freddy Hirsch für dieses Datum das Signal des Aufstands. Als Hirsch informiert war, fragte er: „‚Wenn wir einen Aufstand machen, was wird mit unseren Kindern geschehen? Wer wird sich um sie kümmern?‘ Ich [also Vrba - B.K.] antwortete: ‚Eines ist sicher: Es gibt für sie keinen Ausweg. Sie werden auf jeden Fall sterben. Das steht fest. Daran können wir nichts ändern. Dagegen hängt das Folgende von uns ab: Wer wird mit ihnen sterben? Wie viele SS-Leute werden sterben? Wie weit wird es uns gelingen, die Maschinerie zu blockieren? Ohne von der Möglichkeit für einige von uns zu reden, im Verlauf des Kampfes zu entkommen, einen Ausbruch zu versuchen, denn wenn der Aufruhr einmal begonnen hat, können uns Waffen in die Hände fallen.‘“' Freddy Hirsch erbat sich im Zimmer des Schreibers Rudolf Vrba eine Stunde Bedenkzeit und nahm sich mit einer starken Dosis Barbiturat das Leben.