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Kurze Zeit später umstellten starke SS-Kräfte das „Familienlager“. Auch die SS stand erstmals vor so einer Situation: Noch nie hatten Juden, die sie zur Ermordung führten, von ihrem bevorstehendem Schicksal gewußt. Der Widerstand hatte den Aufstandsplan wegen dem Tod des Aufstandsführers aufgegeben. Aber Überlebende der Sonderkommandos überliefern bewegt, daß die Theresienstädter sich in der „Garderobe“ vor den Duschen/Gaskammern nicht ausgezogen haben, also angezogen und singend in die Gaskammern gegangen sind. Sie sangen die tschechische Nationalhymne und die Hatikwa.’ Der kühle Analytiker Vrba reflektierte diese Niederlage und suchte nach neuen Optionen. Er sah in Auschwitz keine Handlungsmöglichkeiten mehr und versuchte mit seinem Freund Wetzler zu fliehen, um wenigstens noch die ungarischen Juden vor ihrem Schicksal zu warnen. Ihre Flucht im April 1944 zu den Partisanen in die Slowakei gelang, aber ihre Warnungen hatten wenig Erfolg. Im Film „Shoah“ bilanzierte Vrba den gescheiterten Aufstandsversuch knapp und scharf: „Von da an war mir klar, daß die Widerstandsbewegung sich keinen Aufstand zum Ziel gesetzt hatte, sondern das Überleben. Das Überleben der Mitglieder des Widerstands. Ich faßte einen Entschluß, der von ihnen als anarchistisch und individualistisch beurteilt wurde: zu fliehen, die Gemeinschaft zu verlassen, für die ich in dieser Zeit mitverantwortlich war.“? Ich habe bewuBt ein besonders beklemmendes Beispiel aus dem Zentrum des Horroruniversums, den Aufstandsversuch vor den Gaskammern von Auschwitz, gewählt, um die geringen Möglichkeiten des Lagerwiderstandes zu zeigen. Totalitäre Terrorapparate sind von innen, von den Insassen her, beinahe nicht zu stören. Welche Konsequenzen mußte dies für das Verhalten der KZ-Häftlinge haben? Hier kann die Analyse der Lagerbiographie Ernst Federns und die Beobachtung des Wirkens seiner großen Unterstützerin, Hilde Federn, erhellend sein. Ernst Federn wurde im Mai 1938 im KZ Dachau eingeliefert. Dort wurde der sozialistische Antifaschist zum „politischen Juden“ gemacht und dem quälenden Betrieb und Routine des KZ unterworfen. Daß er sich in dieser Zwangsmaschine halbwegs zurechtfinden konnte, ist auch auf seine Hafterfahrung in austrofaschistischen Gefängnissen zurückzuführen und auf sein Wissen, daß er als Gegner des Nationalsozialismus ein großes Risiko auf sich genommen hatte. Dennoch hielt er der Überarbeitung in der Dachauer Kiesgrube nicht stand. Er brach Ende Juni 1938 zusammen.und wurde von der SS daraufhin mit der Folter des Baumhängens „bestraft“. Erstaunlicherweise überlebte er diese Tortur ohne körperliche Gebrechen und konnte mit seinem Überlebenswillen Eindruck auf seine Mithäftlinge machen. Parallel dazu wurde er als Häftling, der von zu Hause Geld und Hilfssendungen zu erwarten hatte, in die Selbsthilfeorganisation der politischen Häftlinge eingebaut. Ihm wurde ein erfahrener Häftling, der kein Geld von außen bekommen konnte, zugeordnet, der sich als Gegenleistung für etwas Geld um seine Sicherheit zu kümmern hatte. Mit seinem sozialen Geschick konnte Ernst Federn in Dachau eine erste Sicherheit im Terrorkosmos gewinnen.* Die war allerdings dahin, als er mit allen jüdischen Häftlingen Dachaus im September 1938 ins KZ Buchenwald verlegt wurde — wieder ein neues unbekanntes Terrorsystem, wieder die alte Aufgabe, neue Sicherheit in der Gefährdung zu finden. War Dachau schon ein baulich fertiges KZ unter Binnenführung von „politischen Häftlingen“ gewesen, war Buchenwald noch ein „Aufbaulager“ unter der Binnenleitung von sogenannten „kriminellen Häftlingen“. Die Häftlinge mußten den zweiten Winter Buchenwalds noch unter äußerst harten und provisorischen Bedingungen überstehen. Einerseits hat Ernst Federn sehr schnell die Konsequenzen gezogen: er sah, daß er nur als sehr guter Arbeitssklave Überlebenschancen hatte — er arbeitete kräftig am Aufbau Buchenwalds mit; andererseits forderte das harte Klima am Goethe’schen Eittersberg seinen Tribut: im Winter 1938/39 erfroren ihm nacheinander Hände und Füße. Da er es verstand, die politischen Häftlinge im Häftlingskrankenbau zu beeindrucken, konnte er sich eine heilende und sogar kraftsparende Behandlung im Revier organisieren und gefährlichen Turbulenzen im Lager ausweichen. In diesem kalten Winter, in dem der Aufbau des KZ Buchenwald langsam abgeschlossen wurde, und es sich für die SS zeigte, daß die sogenannten „kriminellen Häftlinge“ nicht wirklich in der Lage waren, das Massenlager zu verwalten, vollzog sich eine kleine Revolution: Die SS übergab den politischen Häftlingen, darunter auch Juden, die Binnenleitung des Häftlingslagers. In Buchenwald wurden vor allem Kommunisten wichtige Kapos, was aber für die nichtkommunistische Linke nicht sofort dramatisch war, weil der beinharte Stalinismus noch nicht ins KZ gedrungen war. Aber selbstverständlich versuchten die sogenannten „Kriminellen“ ihre Absetzung rückgängig zu machen, daher wurde mit wenig feinen Methoden um die überlebenssichernden Posten gekämpft, besonders in der gefährdetsten Häftlingsgruppe, unter den Juden. Der Kampf um die Funktionshäftlingsposten blieb in dieser Gruppe besonders in Erinnerung, weil beeindruckende politische Häftlinge mittels der Lagerfeme umgebracht wurden. Da Ernst Federn schon in Dachau in die Gemeinschaft der jüdischen politischen Häftlinge aufgenommen worden war, konnte er sich nach dem Umschwung im Funktionshäftlingssystem in Buchenwald sofort besser bewegen. 1939 konnte er bessere Arbeitskommandos finden und im November 1939 ergatterte er in einer Lagerkrise einen Posten, der ihn vom November 1939 bis zum Frühjahr 1942 zu einem privilegierten Häftling machen sollte: den Posten des Nachtwächters in seinem „Judenblock“. Er mußte in der Nacht auf das Feuer, die Mithäftlinge, eventuelle Gefahren von außen achten und konnte dafür am Tag im Block versteckt schlafen. Er hatte sich eine leichte Arbeit beschaffen können und geriet nicht in die eindeutigen Gefahrenzonen des KZ. Er mußte sich seinen Chefs im Block anpassen und aufpassen, daß er nicht von Konkurrenten verdrängt wurde. Ernst Federn hat offensichtlich die große Anpassungsleistung an die brutalen Lebensbedingungen im System KZ im Laufe von eineinhalb Jahren geschafft.’ Um einen Eindruck von der Moral dieser Anpassungsleistung zu geben, zitiere ich ein Lagerlied. Es ist das letzte erhalten gebliebene literarische Lebenszeugnis Jura Soyfers, der am 16.2. 1939 siebenundzwanzigjährig an Typhus im KZ Buchenwald verstorben ist. Den Text Soyfers hat Herbert Zipper vertont. Das Dachaulied entstand im August 1938 an einem heißen schweren Arbeitstag, den Jura und Herbert in einer Kiesgrube Dachaus zusammen arbeitend verbrachten. Das Dachaulied bezieht sich beinahe selbstverständlich auf das Motto des KZ Dachau, das ins Lagertor geschmiedet war: „Arbeit macht frei“. Es wurde oft in erster Linie als trotziges politisches Kampflied rezipiert, was es auch ist, aber es enthält auch eine sehr differenzierte überlebenssichernde Strategie der Anpassung. 11