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Wenn in der Generationenfolge die Verbrechen nicht nur nicht gesühnt, sondern nicht einmal mit Schamgefühlen beantwortet werden, dann ist das ein Hinweis darauf, dass eine Konfrontalion, eine Auseinandersetzung und eine innere Veränderung ausgeblieben sind. Damit sind auch die notwendigen Voraussetzungen nicht geschaffen, einer Wiederholung in den Anfängen zu wehren. Unter dem Leitmotiv „Die Wiederkehr des Verdrängten — Nationalsozialismus und Antisemitismus“ trafen sich von Jänner bis Juni 2003 etwa 80 Menschen einmal wöchentlich zur psychoanalytischen Gro®gruppe.?, Um Menschen die Chance zu bieten, sich in einem derartigen Rahmen mit dem Nationalsozialismus und dem Antisemitismus anhand der eigenen Familiengeschichte auseinanderzusetzen, hatte die Historikerin und Therapeutin Mag. Gerlinde Farkas-Zehetner in der Tageszeitung Der Standard und in der Gemeinde, dem offiziellen Organ der Israelitischen Kultusgemeinde Wiens, zur ersten öffentlich zugänglichen Großgruppe eingeladen. Altersmäßig gemischt, kamen die Teilnehmenden mehrheitlich aus dem linksintellektuellen Milieu. Unterschiedliche Motive und Fragestellungen hatten die Nachkommen der Opfer und die der Täter- und Zu- bzw. WegschauerlInnen in die zweistündigen Sitzungen getrieben: neben der Neugier für die einen und den quälenden Fragen für die anderen war ein Gemeinsames jedenfalls der Wunsch, sich mit der Last der Vergangenheit auseinanderzusetzen. Im Herbst 2003 wurde die Großgruppe fortgesetzt, so kommen bis dato wöchentlich etwa vierzig Personen nach wie vor in die Sitzungen. Masse und Ich Bei psychoanalytischen Großgruppensitzungen nehmen die TeilnehmerInnen in einem mit konzentrisch angeordneten Sitzgelegenheiten ausgestatteten Raum Platz und werden vom ‚Gruppenleiter“ (in diesem Fall dem Analytiker und Spezialisten für Groß- und Kleingruppen Prof. Josef Shaked) aufgefordert zu sagen, was ihnen einfällt und sich dabei möglichst nicht selbst zu zensieren (psychoanalytische Methode). Dabei treten bestimmte Phänomene und Gruppenprozesse auf, die mit dem Setting der Großgruppe zusammenhängen und aus der Psychologie von Massen bekannt sind, wie die regressionsfördernde Ablösung des individuellen durch ein Massen-Ichideal, die Aktivierung vielfältiger Ängste (vor Ausschluss oder Vereinzelung) und Sehnsüchte (nach symbiotischer Verschmelzung) sowie die Identifizierung der Gruppenmitglieder untereinander. Deshalb eignet sich die Großgruppe besonders für die Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen und politischen Problemen, ja mit der kollektiven Geschichte an sich. Die Gegenwart der Vergangenheit Analytiker sind sich heute einig, dass die Vergangenheit, dass Geschichte, dass das Schicksal der Eltern und Großeltern in das Seelenleben ihrer (Enkel)Kinder Eingang findet. Die Frage in diesem Zusammenhang ist lediglich, auf welche Weise und ob 14 eine tiefere Auseinandersetzung einsetzt, die produktiv genützt werden kann. Die Analyse kann erklären, wie die Tragödie einer Generation an nachfolgende Generationen weitervermittelt wird und damit die Voraussetzungen für eine Unterbrechung der Leidenskette schaffen. Sie kann weiters unbewusste Schuldgefühle und die daraus resultierenden Abwehrmechanismen offenbar machen. Für den Entschluss zur Teilnahme an dieser Großgruppe war die Suche nach Auseinandersetzung wohl Voraussetzung. Dennoch scheint es wichtig zu betonen, dass sich für die Nachkommen der Opfer und für die Nachkommen der Täter vollkommen unterschiedliche Aufgaben stellen. Für die Kinder überlebender Opfer gilt es „verstehen zu lernen, was ihre Eltern [und Großeltern] in der Vergangenheit erlebt haben“. Diese Aufgabe betrifft eine Realität, [...] die das Vertrauen in die menschliche Natur untergräbt [...]. Zusätzlich beeinträchtigt wird das ohnehin erschütterte Vertrauen in die Menschlichkeit durch aktuelle Ereignisse, die als erneute Verfolgung erlebt werden können, und durch die reale Fortsetzung der Verfolgung, wie sie sich in antijüdischen Ressentiments, antijüdischen Terroranschlägen und diskriminierenden Gerichtsverfahren manifestiert, die ehemalige Nazis [und Neonazis] schützen.* Bei den Nachkommen jener, die den Holocaust als Verfolger, Zu- und WegschauerInnen mitverantwortet haben, rücken die „psychischen Mechanismen in den Mittelpunkt, mit deren Hilfe das Wissen um die Beteiligung der Familie an den NaziAktivitäten‘® abgewehrt wird. „Verdrängung, Verleugnung, Isolierung und Verkehrung stellen die wichtigsten Abwehrformen dar. Die Operation dieser psychischen Mechanismen aber setzt ein Schuldgefühl voraus, das die Abwehr in Gang setzt.‘ Zu diskutieren wäre hier, ob erst dieses verinnerlichte Schuldgefühl die Abwehr auslöst, oder ob nicht auch die gesellschaftliche Präsenz von Schuld- und Verantwortungsdiskursen bei gleichzeitiger innerer Gleichgültigkeit gegenüber dem Geschehenen motivierend sein kann. Banalitat der Guten Hike Geisel thematisierte bereits in den 1980er Jahren jene Blüten, welche die manische Beschäftigung der Deutschen mit dem Jüdischen trieb und diagnostizierte eine Banalität der Guten. In der philosemitischen Begeisterung bis hin zur Identifikation mit den Opfern drückt sich der Wunsch aus, die eigene Geschichte durchzustreichen. In diesem Heilungsversuch werden Jüdinnen und Juden in der Regel zu StatistInnen degradiert. Wie im primären Antisemitismus dienen sie auch im sekundären’ als Projektionsfläche: Die Überlebenden der Vernichtung [und deren Nachkommen] werden zu Trägern der Affekte, die wiederum die nichtJüdischen Deutschen in ihre psychische Struktur nicht integrieren können“ Die Bewunderung gehört wie der Vernichtungswunsch zum antisemitischen Syndrom, von daher überrascht es nicht, wie schnell Philosemitismus in Antisemitismus umschlagen kann.