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Unter den Bedingungen der Großgruppe traten all die Verhaltensweisen von Nicht-Jüdinnen und Nicht-Juden gebündelt zu Tage: die unterschiedlichen Arten der Abwehraggression gegenüber den Opfern, die eigentlich dem Erinnern und dem Gewissen gelten, sich aber gegen deren imaginierten RepräsentantInnen richten. So konnten z.B. Erzählungen von Verfolgungsgeschichten kaum im Raum stehen gelassen werden, mit banalen Kommentaren sowie mit Versuchen, sich selbst auch als Opfer darzustellen, wurde geantwortet. Zu beobachten war eine „Affektverleugnung und Affektisolation, was heißt, dass die Wirklichkeit des Traumas, also das, was in Auschwitz geschah, zwar durchwegs anerkannt wird, aber im Erleben nichts bedeutet.‘” Dies mündete gar in einer Schlussstrichforderung: „Reden wir doch lieber über das, was heute wichtig ist, nicht immer nur über die Vergangenheit.“ Schon in den Erzählungen der unterschiedlichen Familienhintergründe tat sich ein auch als solcher benannter Graben auf. Dieser störte die Identifizierungsversuche mit den Opfern. Daher wurden allerlei Anstrengungen unternommen, ihn wieder zuzuschütten. Auf die Feststellung eines jüdischen Teilnehmers, dass dieser „Graben nicht zuschüttbar“ sei, weil er aus den „Bergen der Leichen“ bestehe, die „die Nazis hinterlassen haben“, äußerte sich eine nicht-jüdische Teilnehmerin „wir sind doch alle Menschen“, und die nicht-jüdischen Vorfahren wurden zu Opfern des alliierten Bombenkriegs erklärt. Viele nachgeborenen FreundInnen des Judentums fühlten sich von diesem ausgeschlossen: Eine Teilnehmerin sagte, sie traue sich „nicht ins Cafe im Jüdischen Museum. Ich habe das Gefühl, da ist für mich kein Platz.‘ Gleichzeitig wies sie immer wieder darauf hin, dass auch sie als Tätertochter „enorm gelitten“ habe, aber „das darf man ja nicht sagen“. Nachdem alle Versuche, die Differenzen auszulöschen gescheitert waren, schlug der Hass auf die Nicht-Identischen unmittelbar durch. So stieß sich ein Teilnehmer daran, dass sich im „Judentum“ Mitgliedschaft per Geburt bestimme und bezeichnete dies als „rassistisch“. Wer sich selbst so absondere, brauche sich auch nicht zu wundern, wenn ihm Misstrauen oder gar Hass entgegengebracht werden. Für die Unmöglichkeit einer Versöhnung, welche durch den Gegenstand selbst begründet ist, wurden Jüdinnen und Juden verantwortlich gemacht. Zwar war nicht offen die Rede von der „alttestamentarischen Rachsucht“, aber das Ressentiment kleidete sich in scheinbar naive Fragen: „Ich frage mich, was im Judentum für Versöhnung getan wird. Das Christentum ist ja die Versöhnungsreligion, aber was gibt es da im Judentum.“ Ein besonders eifriger Vergangenheitsbewältiger wollte gegenüber den jüdischen TeilnehmerInnen als Rächer punkten: „Wenn ich einen solchen Nazibonzen in der Familie hätte, ich hätte ihn eigenhändig erwürgt.“ Die Todesphantasie eines NichtJuden gegenüber einem (imaginären) Verwandten war nicht durch dessen Taten motiviert, sondern durch den Wunsch, sich kurzerhand von den Verstrickungen zu lösen. Legion waren die vielfältigen Versuche, die Schuld der Vorfahren zu minimieren: auffällig oft war etwa von „Verführung“ die Rede. Die Nazis in der Familie wurden als passiv vorgestellt. Diese retrospektive Flucht vor der Verantwortung setzt sich im Heute fort: „Was kann ich für diese Regierung, ich habe sie nicht gewählt.“ Auch tauchte die Behauptung auf, bis zum Kriegsende nichts von den Nazi-Verbrechen gewusst zu haben. Neben den obligatorischen Hinweisen auf andere Massenmorde und Staatsverbrechen - natürlich durfte auch der Verweis auf den „Israelischen Völkermord an den PalästinenserInnen“ nicht fehlen — wurde darüber hinaus versucht, den Kreis der Schuldigen auszuweiten: „Die Gaskammern hat ein Amerikaner erfunden.“ Gerade der Antiamerikanismus markierte den bereits erwähnten Graben: Während sich ein nicht-jüdischer Teilnehmer „über jeden toten amerikanischen Soldaten“ im Irak freute, erinnerten Jüdinnen und Juden an den historischen Beitrag der USA zu ihrem Überleben. So zeigte sich gerade in der Auseinandersetzung mit tages- und weltpolitischen Ereignissen, dass es die unterschiedlichen Familiengeschichten sind, welche maßgeblich die Wahrnehmung, das Denken und Handeln determinieren. Kontinuitäten Die Geschehnisse in der Großgruppe weisen eine erschreckende Kontinuität auf. Denn Adorno hatte bereits in den 1950er Jahren die Strategien und Formen der Erinnerungsabwehr in seiner Studie „Gruppenexperiment“ (Kapitel 5: „Schuld und Abwehr‘“) sichtbar gemacht. So hatte er zum Beispiel beobachtet, dass nur ganz wenige TeilnehmerInnen offen zugegeben hatten, dass sie Nazis waren, dass aber dennoch nur eine Minderheit das Geschehene eindeutig verurteilte. Adorno stellte fest, dass ganz besonders dann, wenn von rassistisch motivierten Verbrechen in Amerika berichtet wurde, dies für die TeilnehmerInnen ein Grund zur Freude war, sie sich die Hände rieben. Grundsätzlich erkannte Adorno: Von all den Versuchsteilnehmern ist kaum einer so geartet, dass er vertreten würde: es ist in Ordnung, dass sie umgebracht worden sind. Sondern es handelt sich meist um den Versuch, die eigene überwertige Identifikation mit dem Kollektiv, zu dem man gehört, in Übereinstimmung zu bringen mit dem Wissen vom Frevel: man leugnet oder verkleinert ihn, um nicht der Möglichkeit einer Identifikation verlustig zu gehen, welche es Unzähligen psychologisch allein erlaubt, über das unerträgliche Gefühl der eigenen Ohnmacht hinwegzukommen." Noch weitere Beobachtungen Adornos kommen dem Gruppengeschehen der Großgruppe 2003 erschreckend nahe. So wusste Adorno von der im Rahmen seines Gruppenexperiments einsetzenden Regression zu berichten, die aufgrund der durch die Thematik angesprochenen Emotionszentren hervorbricht. Adorno spricht von „primitiven, infantilen Reaktionen von der Art der Freude des Kindes am Lob und seines momentanen Zurückschlagens bei allem, was ihm irgendwie nach Kritik dünkt.‘“"' Aber auch die versuchte Intellektualisierung, Rationalisierung dessen, was geschah, sowie die Aufrechnung von Schuldkonten, waren für Adorno bereits 1955 genauso sichtbar, wie 2003. Diese unübersehbare Fortsetzung der Erinnerungsabwehr, wirft die Frage auf, inwieweit die Teilnahme an der psychoanalytischen Großgruppe Veränderung bewirken kann. Was bringen die Sitzungen wirklich und würden Fachleute, wie die Initiatorin oder der Gruppenleiter, nach einem halben Jahr von positiven Ergebnissen sprechen? „Wenn Sie mich fragen, was die Großgruppe bringen kann, dann fragen Sie eigentlich, was die Psychoanalyse bringen kann“, so Prof. Shaked. „Die Psychoanalyse leitet nicht und lenkt nicht, sie holt die irrationalen, dunklen Seiten, das Chaotische, Aggressive in uns heraus. Wenn jemand zu mir kommt, weil er mit dem Gedanken spielt, eine Analyse zu machen, dann sage ich ihm, dass ich ihm nicht versprechen kann, dass er nach 15