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der Analyse noch derselbe Mensch sein wird. Was ich aber versprechen kann ist, dass ich ihn nicht in eine bestimmte Richtung drängen werde.“ In der Großgruppe gehe es darum, sich mit der eigenen Lebensgeschichte auseinanderzusetzen, vor dem Hintergrund der Zeitgeschichte. Die Auseinandersetzung selbst bilde den Versuch, sich von der Last der Vergangenheit zu befreien — von latenten Schuldgefühlen auf der einen Seite und von quälenden Erfahrungen auf der anderen. „Die Menschen, die zur Großgruppe kommen, bilden eine sehr ausgewählte Gruppe“, so Shaked weiter. „Denn nur eine Minderheit sucht die Auseinandersetzung.“ Und es sei besser, die Menschen setzten sich auseinander, als sie verdrängen, auch wenn Antisemitismus Bestandteil der hiesigen Kultur sei und somit immer Reste bleiben. „Die Gruppe bildet ein Korrektiv, die Wortmeldungen und Kommentare machen automatisch selbstkritisch“, so Shaked. Aber ist es nicht auch ein Stück weit Zumutung, wenn sich Jüdische TeilnehmerInnen für die Erinnerungsarbeit der Täternachkommen zur Verfügung stellen? „Das ist genauso Zumutung, wie die Realität es ist“, so Gerlinde Farkas-Zehetner. „Die Gruppe spiegelt ein Stück Gesellschaft, ein Stück Realität. Und sie bietet allen Teilnehmern die Chance, Wege zu entdecken, mit dieser Realität besser umzugehen. Aber ich gebe zu, ich habe vor allem an die nicht-jüdischen Teilnehmer gedacht, als ich die Großgruppe plante.“ Und Prof. Shaked: „Wenn jemand durch eine Wortmeldung verletzt wurde, dann bedeutet das ja auch, dass unter der Oberfläche etwas schlummerte, mit dem der Betroffene nun einen anderen Weg des Umgangs finden muss. Er hat die Chance mit den Verletzungen produktiv umzugehen.“ Und auf die Frage, ob speziell diese Großgruppe etwas gebracht hat, sagt Frau Farkas-Zehetner: „Absolut. Man konnte erleben, wie sich eine amorphe Masse zu einer Gruppe wandelt, die fähig wird, Beziehungen einzugehen und Konflikte miteinander auszutragen.“ Altes in neuem Gewand Als Josef Shaked mit den Großgruppen anfing, waren Überlebende und Nazis unter den TeilnehmerInnen. Damals, so erzählt er, war er vorsichtig, ließ dem Chaos und den (Abwehr) Aggressionen nicht ganz so freien Lauf, denn die Menschen waren zum Teil traumatisiert. Je mehr die Zeit verging und die Generationen wechselten, umso konfrontativer begann er die Gruppen zu gestalten. „Ich bin eher ein konfrontativer Mensch“, sagt er nicht ohne ein Schmunzeln. „Und bei den Angehörigen der dritten Generation nach der Shoah kann man schon konfrontativ arbeiten.“ In den 1980er Jahren hatte Shaked eine Gruppe TrotzkistInnen und MaoistInnen, die sich vor allem vom Katholizismus ihrer Eltern lösen wollten. In der Großgruppe entdeckten sie, dass sie lediglich ihre „Religion“ gewechselt hatten, sie waren eben linke Dogmatiker geworden, statt katholische wie ihre Eltern. Auch entdeckten sie, dass hinter ihrer Fixierung auf das Thema Israel der alte Antisemitismus steckte, den sie an ihren Eltern zu bekämpfen geglaubt hatten. Shaked erzählt: Manche dieser Teilnehmer zogen die Konsequenzen, für sie war die Gruppenerfahrung eine Bilanzziehung und sie distanzierten sich. Andere verfielen in Depressionen, die wiederum zur Analyse führten und von da in eine Ausbildung zum Ana16 Iytiker. Wieder andere suchten sich eine neue „Religion“ und wurden zu Körndlfressern, um ihre verunsicherte Identität zu stärken und wieder Halt zu finden. Bei den jüdischen Teilnehmern gab es die, die sagten: Ich bin Internationalist, ich will kein Jude sein. Und manche wurden auch trotzige Juden, die meinten, wenn uns hier niemand will, dann bleiben wir erst recht. Von Beginn an waren Großgruppen heftig umstritten. Man glaubte, die Menschen würden verrückt werden, der Bedrohlichkeit der Masse nicht standhalten können. Auch die Großgruppe 2003 wurde medial nicht ohne Vorverurteilungen, vor allem aus der Fachwelt, begleitet — für die Initiatorin ein (weiteres) Zeichen dafür, dass „auch Therapeuten blinde Flecken“ haben, lieber wegsehen und verdrängen. Über ihre unmittelbare Motivation, zur Großgruppe einzuladen, sagt Frau FarkasZehetner: Ausschlaggebend war letztlich der 11. September. Es war wie damals, als ich Geschichte studierte und - immer wenn die Rede auf Juden oder Israel kam — meine Mitstudenten auf einmal keinen rationalen Argumenten mehr zugänglich waren. Nach dem 11.9. kamen alle diese Elemente wieder: kein Wort des Mitgefühls für die Opfer, im Gegenteil, die Opfer wurden zu Tätern gemacht, Bush war auf einmal ein Diktator, beeinflusst von jüdischen Beratern, Sharon der größte Verbrecher. Und das waren keine Stammtischgespräche, sondern Aussagen von Akademikern. Ich dachte, ich muss etwas tun und weil ich im Rahmen meiner Ausbildung Erfahrung mit Gruppen gemacht hatte, wollte ich nun auch anderen Menschen die Chance geben, sich mit gesellschaftlichen und politischen Problemen anhand der Familiengeschichte auseinanderzusetzen. Tropfen auf dem braunen Stein Knapp ein Jahr nach der ersten Großgruppensitzung kann wohl auch diese Initiative nur als ein Tropfen auf dem braunen Stein bezeichnet werden. Einerseits „besteht die Hoffnung, dass das erwachende Bewusstsein der Analytiker und die Analysen der zweiten und dritten Generation die bewusste Wahrnehmung des Holocaust und seiner Folgen schärfen“.'? Andererseits aber wissen AnalytikerInnen, deren PatientInnen Nachkommen der Täter waren, dass „die unbewussten Erinnerungen an die Nazigestalten und die Identifizierungen mit ihnen auf komplexe Weise in die Symptome verflossen waren, die sich aufgrund aktueller [...] Konflikte entwickelt hatten. [...] Man darf vermuten, dass die Identifizierungen mit antisemitischen Haltungen und anderen Merkmalen der Unbarmherzigkeit bei unveränderter sozialer Billigung ihre volle Wirkung hätten entfalten können. [...] Wenn gleich vieles [...] auf ein beachtliches Potenzial des menschlichen Geistes verweist, sich über die Umweltverhältnisse zu erheben, führt er uns dennoch in vielerlei Hinsicht überzeugend vor Augen, dass die dunklen Kräfte, die den Holocaust verursacht haben, einer neuen Generation durch Identifizierungen weitervermittelt werden, welche die kindliche Entwicklung und die Zähmung primitiver Triebe tiefgreifend beeinflussen. Es hängt vom sozialen Klima insgesamt und den vorherrschenden, bewussten Gruppenhaltungen ab, ob diese Identifizierungen weitgehend unbewusst bleiben und eine Konfliktquelle bilden oder ob sie sich in einer totalitären Gesellschaft, die ähnliche Werte vertritt, wie sie von den Nazis propagiert wurden, als wünschenswerte Eigenschaften offen entfalten können. Es scheint, als könne es sich keine Gesellschaft leisten, sich mit diesem Problem zufriedenzugeben, denn