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wenn die Identifizierungen auch variieren mögen, sind die potenziell destruktiven Triebkräfte, die durch die Entwicklung modifiziert werden müssen, doch uns allen gemeinsam.““” Dass die „Nazi-Ideologie der Eltern die Psyche der Kinder infiltrierte“ und dort oftmals die „Loyalität gegenüber den NaziEltern die gesunden Selbsterhaltungswünsche untergrub“, ist heute ebenso erkannt worden, wie die Tatsache, dass sich NaziNachkommen von einer „inneren Aushöhlung ihrer Struktur nur dann bewahren konnten, wenn sie Einsicht in die Schwächen der Eltern gewinnen und sich von ihnen distanzieren konnten.“ Dieser hoffnungsvollen Sicht auf die Möglichkeiten individueller, nicht-pathologischer Verarbeitungsformen stehen jedoch gesellschaftliche Entwicklungen in den postnationalsozialistischen Staaten gegenüber. Der individuelle Leidensdruck fehlt nämlich weitgehend angesichts der vielfältigen Formen des Weiterlebens des Nationalsozialismus und der kollektiven Verarbeitungsformen des Unsagbaren. Wie die primären fühlen sich auch die sekundären AntisemitInnen in dieser Umgebung nicht als krank, ganz im Gegenteil. Fragen ohne Antwort Bleibt zuletzt die Frage, was die Teilnahme an der Gruppe den Einzelnen brachte. Das Gruppengeschehen selbst änderte sich im Laufe des halben Jahres nur wenig, mal ging es aggressiver zu, mal wieder ruhiger. Manche TeilnehmerInnen brachten sich sehr lautstark ein, um dann in den nächsten Sitzungen gar nichts mehr zu sagen oder auch gar nicht mehr zu kommen. Viele wechselten immer wieder ihren Sitzplatz, um sich von der Mitte des Raumes mehr, vom Rand weniger einzubringen. Kaum jemand blieb die ganze Zeit über in gleicher Weise präsent. Ob diese Dynamik Ausdruck dafür ist, dass sich in der Gruppe viel bewegt hat, ist ungewiss, mag auch die „amorphe Masse“ (Farkas-Zehetner) mit der Zeit ein Geflecht aus Beziehungen geworden sein. Denn artikuliert wurde die Veränderung nicht. Dennoch - wer kann das schon wissen — könnte hier oder da ein innerer Prozess stattgefunden haben. Vielleicht wurde der Blick auf die vielfältigen Verstrickungen ermöglicht. Vielleicht kamen einzelne nicht-jüdische TeilnehmerInnen zu einer kritischen Überprüfung ihres bisherigen Verhältnisses zur Vergangenheit, ihrer internalisierten Werte und daraus resultierenden (politischen) Haltungen, konnten sie verstehen, woher der Hass auf Amerika, der Hass auf Israel kommt. Vielleicht kam der eine oder die andere zumindest zu einer kritischeren Sicht auf das Land der TäterInnen, wenn schon nicht zu einem notwendigen Bruch. Und konnte anfangen, den Graben wahrzunehmen, der die Täter von den Opfern trennt, die Berge von Leichen. Möglicherweise konnten jüdische TeilnehmerInnen durch die Geschehnisse in der Großgruppe lernen hinzusehen: das ist die Gesellschaft, die uns umgibt, so ist die Realität. Vielleicht konnten jüdische TeilnehmerInnen dadurch begreifen, was zwar oft im Kopf irgendwo präsent aber so schwer ins Sein integrierbar ist: der Antisemitismus existiert völlig unabhängig von unserem Verhalten; wir können aufhören nach Antisemitismus vermeidenden Verhaltensweisen zu suchen, denn diese gibt es nicht. Schließlich bleibt fraglich, ob eine Methode, wie sie in psychoanalytischen Großgruppen eingesetzt wird — also eine, die weder lenkt, noch leitet —, die geeignete ist, um (sekundäre) AntisemitInnen ohne „Krankheitseinsicht“ jedoch mit gerade so viel Bereitschaft, immerhin an der Großgruppe teilzunehmen, zu einer Veränderung zu bewegen. Es müsste doch das Ziel der Veränderung ein ganz bestimmtes sein. Das Korrektiv der Gruppe zu überlassen und auf „automatisch“ einsetzende Selbstkritik (Shaked) zu setzen, erscheint nicht zuletzt angesichts der Geschichte mehr als problematisch. Hannah Fröhlich, Jg. 1971, ist Redakteurin der Zeitschrift Context XXI. Heribert Schiedel, Jg. 1967, Mitarbeiter im Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (DÖW), Bereich Antisemitismus- und Rassismusforschung, Redakteur der Zeitschrift Context XXI Anmerkungen 1 Gertrud Hardtmann, zitiert nach: Lars Rensmann: Kritische Theorie über den Antisemitismus. Studien zu Struktur, Erklärungspotenzial und Aktualität. Berlin, Hamburg 1998, 300. 2 Im Gegensatz zu bereits vielfach genützten und therapeutisch etablierten Kleingruppen, setzt sich eine Großgruppe aus mindestens 25 Personen zusammen. Kleingruppen eignen sich zur Bearbeitung der Familienstrukturen und ihrer Wirkung auf den Einzelnen. Der intime Rahmen bietet ähnlich der Einzelanalyse Raum für vielfältige Projektionen von familiären Beziehungen. Eine Großgruppe, die aufgrund der hohen TeilnehmerInnenzahl keinerlei Intimität bietet, eignet sich zur Bearbeitung der persönlichen Biographie vor dem Hintergrund von Geschichte, der Wirkung von Geschichte auf den/die Einzelne/n. 3 Die Bezeichnung Gruppenleiter ist in diesem Zusammenhang irreführend, da die psychoanalytische Methode Leiten und Lenken per Definition ausschließt. Prof. Josef Shaked nahm wie alle anderen an den Sitzungen teil, beschränkte sich aber weitgehend auf die Rolle des Beobachters. Das Wissen um seine Fachkenntnisse ist für das Gruppengeschehen dennoch bedeutend. 4 Judith S. Kestenberg, Milton Kestenberg: Die Erfahrung überlebender Eltern, in: Jacovy Bergmann, J.S. Kestenberg, M. Kestenberg (Hg.): Kinder der Opfer, Kinder der Täter. Psychoanalyse und Holocaust. Frankfurt/M. 1995, 73. 5 M. Donald Coleman: Kind von Verfolgern. In: Wie Anm. 4, 235. 6 Ebd. 7 Der Begriff „sekundärer Antisemitismus“ meint den Antisemitismus nicht trotz, sondern wegen Auschwitz. „Kern des sekundären Antisemitismus bildet der Wunsch, die Verbrechen des Nationalsozialismus zu vergessen und sich auch all der damit verbundenen Gefühle zu entledigen. Die zentrale Bedingung dafür ist die Verdrängung der Vergangenheit insgesamt, insbesondere aber die Geschichte der Opfer und ihrer Verfolgung.“ (L. Rensmann, a.a.O., 232f.) 8 Dirk Juelich: Ererbtes und erlebtes Trauma. Von den psychischen Beschädigungen bei den Urhebern der Shoah. In: Matthias Heyl (Hg.): „Dass Auschwitz nicht noch einmal sei...“ Zur Erziehung nach Auschwitz. Hamburg 1995, 99. 9 Ebd., 98. 10 Theodor W. Adorno: Gruppenexperiment. Ein Studienbericht. Kapitel fünf: Schuld und Abwehr. In: Soziologische Schriften II.2. Frankfurt/M. 1955, 150. 11 Th.W. Adorno, ebd., 151 12 J.S. Kestenberg, wie Anm. 4, 20. 13 M.D. Coleman, wie Anm. 4, 238. 14 Hardtmann, Gertrud: Die Schatten der Vergangenheit. In: Wie Anm. 4, 241. 17