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Heinz Politzer, Exilant aus Wien, war zu Lebzeiten Professor
der Germanistik in Berkeley. Vor der Auswanderung hatte er
sich einen Namen gemacht als Mitherausgeber (mit Max Brod)
von Kafkas „Schloß“. Bekannt wurde er vor allem als Verfasser
eines bedeutenden Kafkabuches, das zuerst auf Englisch im
Jahre 1962 erschien. Später folgte ein Grillparzerbuch und ei¬
ne Reihe von lesenswerten Essays. Und nun, da alles längst ab¬
geschlossen schien, kommt aus dem Marbacher Archiv ein fas¬
zinierendes, wenn auch hie und da fragmentarisch, wenn nicht
gar undiszipliniert wirkendes Werk über Sigmund Freud.

Eine eigenartige, eigenwillige, merkwürdige Hinterlassen¬
schaft sind diese sechs Kapitel aus den 70er Jahren, in einer
hochliterarischen Sprache geschrieben, mit vielen Zitaten aus
dem Kanon der deutschen Literatur, die, manchmal leicht ver¬
fremdet, nicht einmal in Anführungsstriche gesetzt werden, weil
der Autor ihre Kenntnis als selbstverständlich voraussetzt.
Unbeleckt von Lacan und anderen französischen Nachfolgern
Freuds, behandeln sie den Menschen wie den Wissenschaftler
Freud in einem literarischen Kontext, d.h. sie wenden werk¬
immanente Methoden auf die Schriften des Psychoanalytikers
an und stellen Zusammenhänge her zwischen seinem Werk und
den verschiedensten dichterischen Produkten aus allen Zeit¬
altern, auch der Gegenwart. Unter den Dichtern, die Politzer er¬
wähnt und manchmal ausführlich zitiert, befinden sich Goethe,
Heine, Rilke, Thomas Mann, Kafka, Hofmannsthal, Karl Kraus,
natürlich auch Sophokles und Shakespeare, die Freud ja selbst
verwendet hat, daneben aber auch Zeitgenossen Politzers, wie
Franz Werfel und Günter Eich. Manchmal sollen sie Freuds
Gedanken mehr Gewicht geben, manchmal werden sie selb¬
ständig interpretiert. Das Tragische des Titels ist gleichwertig
mit Freuds Leben und Theorien.

Der Begriff der Tragik, so Politzer, ist unvereinbar mit den
therapeutischen Zielen des Arztes Sigmund Freud. Wer glaubt,
er könne heilen, ist Optimist, und wer die menschliche Seele
heilen will, der ist nicht offen für die Tragik menschlichen Lei¬
dens. Aber nur dem frühen Freud sei es um therapeutische
Resultate zu tun gewesen, und auch in der früheren Phase wa¬
ren Zweifel vorhanden. Der spätere Freud, der Freud von „Das
Unbehagen in der Kultur“ und von „Der Mann Moses und die
monotheistische Religion“, sei so illusionslos gewesen wie die
großen Dichter.

Freud förderte „Urbilder‘ an den Tag und mit dem berühm¬
ten Wort: „Wo Es war, soll Ich werden“, hoffte er, die Heilung
von Urängsten zu bewirken. „Kein geringer Teil seiner Tragik
bestand darin, daß er diese Bilder [die Interpretation von „Imy¬
thischem Erbgut“] als Ergebnisse der Wissenschaft verstand“,
schreibt Politzer, während er doch wußte, dass es „unendliche
Neurosen“ gäbe. Oedipus wird ja nicht geheilt, sondern ent¬
wickelt seine Tragik in der Deutung dessen, was ihm zuge¬
stoßen ist. Nicht umsonst nennt Politzer dieses Kapitel „Sig¬
mund Freund und die Tragik der Interpretation“, denn er besteht
auf der „immanente[n] Tragik jeder Deutung, der es um das
Wesen des Menschen und seiner Seele geht“. Auch Hamlets
„Neurose ist deshalb unendlich und nur durch den Tod zu hei¬
len, weil sie sich im Wort und im Spiel mit dem Wort er¬

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schöpft“. Damit geht Politzer über Freuds Interpetationen die¬
ser literarischen Gestalten hinaus. Die Hermeneutik wird höher
veranschlagt als die Therapie. Von da springt er auf Thomas
Manns „Tonio Kröger“ um, der Hamlet einen Literaten nann¬
te, und liefert eine Deutung der Novelle, die mit Freud nichts
mehr zu tun hat, zu Tonios „Hamletkomplex“, denn „zum Oedi¬
pus-Komplex reicht es nicht mehr“: der Kulturmensch Tonio
Kröger war zu weit von den ursprünglichen Träumen der
Menschheit abgerückt.

Und Freuds eigene Komplexe? Politzer analysiert Freuds
persönliche Konflikte im Zusammenhang mit seinem berufli¬
chen Streben nach „Unsterblichkeit“. Auch Freuds Ohnmachts¬
anfälle und seine Nikotinsucht, an der er starb, werden aufs
Sexuelle und Tiefenpsychologische hin untersucht. Politzer
stellt sprachliche Fehlleistungen in Freuds Selbstanalyse fest,
um dem Ausgesagten einen neuen Sinn zu unterschieben, und
verbindet so die biografische und die wissenschaftliche Leis¬
tung. Er unterwirft Freuds Prosa einer Sprachanalyse, in der er
die Verdrängungen aufzudecken meint, die der Seelenforscher
selbst übersehen hat, das heißt, er behandelt diese Texte als
Primärliteratur, wie die Werke und Briefe der Dichter und
Schriftsteller seiner Faches, der Literaturwissenschaft. Nun ha¬
ben zwar viele Lehrer von Literatur der Versuchung nicht wi¬
derstehen können, Freuds Fallstudien als Novellen, oder doch
wie Novellen zu behandeln, ermutigt von einer unvorsichtigen
Bemerkung des Meisters selbst. Doch Politzers Ansatz ist ein
anderer. Freuds Schriften sind ihm ein Anlaß, seine eigene
Theorie der Sprachskepsis zu entwickeln. Dabei wird der
Umgang mit Sprache selbst zum tragisches Unternehmen.

Da Freud aber ein Meister des sprachlichen Ausdrucks war,
muss man sich fragen, ob er nicht sehr genau und bewußt sei¬
ne Worte so wählte, wie sie dastehen. Anders ausgedrückt,
Politzers Unterfangen, dem Seelenforscher sprach- und litera¬
turkritisch auf den Leib zu rücken, überzeugt nicht überall und
hat etwas Besserwisserisches; wie die ungerechte Kritik an der
Schlegel/Tieckschen Shakespeare-Übersetzung, der er Fehler
ankreidet, die gar keine sind.

Dabei hat Politzer den größten Respekt vor Freuds Leistung.
Den von Freud entdeckten oder erfundenen Komplexen steht
er weitaus unkritischer gegenüber als das heute bei den mei¬
sten Forschern der Fall ist. Nur meint er eben: „Verschränkte
sich nicht seit [der Traumlehre] Freuds Wissen vom Menschen
mit Visionen, die zuweilen gefährlich in die Nähe des Dichte¬
tischen gerieten?“ Mit seinen „kultur- und religionsgeschicht¬
liche[n] Deutungen“ habe Freud „eine tiefenpsychologische
Anthropologie“ entwickelt, die ihre biografischen Entsprechun¬
gen hatte.

Vom Oedipus Komplex ausgehend, postuliert Politzer einen
Laioskomplex: Freud entwickelt sich vom Sohn zum Vater, sei¬
ne Söhne sind seine Schüler, besonders Carl Gustav Jung.
Schon Erikson hatte die Beziehung der beiden Psycholana¬
lytiker als eine ödipale gesehen, Politzer führt diese Gedanken
weiter. Der Konflikt mit Jung ist der Konflikt mit einem gei¬
stigen Sohn, einem „Thronerben“, wobei das Psychoanalytische
Institut das Königreich war, das er zu verlieren fürchtet, aber