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vererben mußte. Der literarische Vater, der in dieses Raster gehört, ist natürlich König Lear und seine Reichsverteilung, mit der Freud sich ja beschäftigt hatte. Aber der späte Freud hat sich auch mit Moses identifiziert, meint Politzer, und da sei die Psychoanlyse an die Stelle des mosaischen Monotheismus getreten. Freuds Werk wie sein Leben folgen uralten mythischen Mustern, die dann doch mehr dichterisch als wissenschaftlich zugänglich sind. Immer wieder leitet Politzer Freuds wissenschaftliche Schriften ins Biografische zurück, z.B. Freuds Beschäftigung mit dem Todestrieb zur Zeit seiner eigenen Krankheit und Todesnähe. Laut Freud, zitiert von Politzer, ist es die Aufgabe des Todestriebes „das organische Lebende in den leblosen Zustand zurückzuführen“. Man ist beim Lesen versucht, einen weiteren Schritt zu wagen und eine Identifikation Politzers mit Freud zu wittern. Über Freuds „mythische Identifikation“ mit Oedipus schreibt er, „Er hat auch sonst zum griechischen Mythos gegriffen, weil er zu schwer an seiner jüdischen Erbschaft trug und zu schmerzlich unter seiner christlichen Nachbarschaft zu leiden hatte.“ Solcher weichen Scharfzüngigkeiten gibt es mehr, wie etwa: „Was die Erscheinung Gottes anlangt, so hat dieser aufgeklärte Stadtjude bis zu seinem Ende dem Bild Gottes den Atem ausgeblasen, als wäre es ein Autoreifen.“ Es sollte dem Leser nicht darum gehen, ob Politzer Freud „richtig“ deutet, wie es auch nicht darum geht, ob er Freud menschliches Verhalten „richtig“ in den Griff bekommt. Freud ist, seit Politzer die vorliegenden Essays in den 1960er und 1970er Jahren schrieb, mehrfach in die Zange genommen und für therapeutische Zwecke als nur beschränkt verwendbar erklärt worden. Politzers dichterische Annäherung ist wissenschaftlich sowieso suspekt. Doch der Ansatz ist ein anderer: es ist ein eigenständiger Versuch, anhand Freudscher Deutungen. Freud ist nur ein Mittel und ein Weg; Politzer geht’s ums Tragische. Das Buch hat seine Schwächen. Wenn Politzer schreibt, Freud „verfügte“ „über die robustere seelische Grundstruktur eines böhmischen Landjuden“ so klingen merkwürdige biologische Vorurteile mit und nach. Unkritisch übernimmt er den Begriff der Dekadenz für das Wien der Jahrhundertwende, als handle es sich dabei um ein biologisch nachweisbares Phänomen. Dadurch, dass Politzer alles Historische aufs Psychologisch-Mythische zurückführen will, entstehen Sinnlosigkeiten wie: „Man kann über Hitler denken und reden wie man will, eines ist gewiß: er hat der Welt die primitive Urtragik des Kannibalismus zurückgegeben.“ (S. 194) Für die posthume Ausgabe sind solche Ausrutscher wohl unvermeidlich, weil der Herausgeber mit einem Nachlaß arbeitet und sich nicht wie ein Lektor beim Autor beschweren und sich Erlaubnis zu Änderungen holen kann. Dasselbe trifft auf die vielen Wiederholungen zu, die Politzer sicher zu Lebzeiten getilgt hätte. Am traurigsten stimmt das letzte Kapitel, „Freud, Oedipus — und nachher?“, ein Ausbruch seiner Enttäuschung über Amerikas Zukunft. Er übt Kritik an einer Generation, der die Tragik abhanden gekommen sei. Tragik hatte Politzer den Amerikanern auch sonst nicht zugetraut. Das Tragische sei die Entscheidung des Menschen für das Höherwertige. Das, meinte er, fehle der vaterlosen Generation, wie er sie in Anlehnung an Alexander Mitscherlich, mit dem er befreundet war, nannte. Die Anliegen der Jugend in den 60er und 70er Jahren hatten sich ihm nie ganz erschlossen, teils weil er konservativ und nicht offen war für die Empörung, die sich damals Luft machte. Sogar der überfälligen Bürgerrechtsbewegung stand er kritisch gegenüber. Den Idealismus und das Rechtsgefühl der Vietnamkriegsgegner und ihre Auflehnung gegen die Heucheleien und Verdrängungen der 50er Jahre verstand er nicht, auch nicht die Opferbereitschaft mancher aufrührerischer Studenten, Minderheiten zu ihrem Recht zu verhelfen. Doch sie verstanden ihn. Der Verdammung und Verteufelung der Jugend, die aus dem letzten Kapitel seines Buches spricht, würde man nie entnehmen können, wie beliebt und angesehen er bei seinen Studenten war, und zwar sowohl bei den jüngeren, den „undergraduates“, denen er mit großer Geduld und zeitlichem Aufwand die Schönheiten und den Tiefsinn deutscher Dichtung darlegte, wie bei den „graduates“, also den eigentlichen Germanistikstudenten, zu denen ich in den frühen 60er Jahren zählte. Politzer war der aufregendste, lebendigste Lehrer, den wir hatten. Seine Seminare und Vorlesungen waren dynamisch und geistreich, vorgetragen und geleitet von einem, der die Sprache - und zwar beide Sprachen, das Englische und das Deutsche — liebte und handhabte wie keiner seiner Kollegen und der unermüdlich nachdachte. Wenn man ihm zuhörte, so wusste man, dass die deusche Literatur tatsächlich des Studiums wert war, was seit dem Zweiten Weltkrieg durchaus nicht jedem Amerikaner oder auch jedem jüdischen Emigranten einleuchtete. Wer sich ein Urteil über dieses Buch bilden will, sollte nicht von seiner „Richtigkeit“ ausgehen, sondern von den Anregungen, die es bietet und - ja doch! — von dem Lesevergnügen, das es gewährt. Denn das ist nicht unerheblich. Es ist ein Stück Kulturgeschichte, die Politzer hier vorlegt, auch wenn er es selbst nicht so gesehen haben mag. Heinz Politzer war 68 Jahre alt, als er 1978 in Berkeley starb. Er hätte seine letzten Jahre sicher lieber in Salzburg, wo er begraben liegt, oder in Wien, wo er gerne Professor geworden wäre, verbracht. Aber die Wiener wollten ihn nicht haben, und für die Studenten der University of California, Berkeley war das ein Glück. Auf seinem Salzburger Grabstein steht unter seinen Lebensdaten nur das Wort „Dichter“. Seine Lyrik hat Besseres verdient als vergessen zu werden. Sie ist nicht avantgardistisch, eher traditionell, daher „altmodisch“ („Ich stammle nicht“, sagte er mir einmal), doch sie hat seinen unnachahmlichen melancholischen Originalton. Ein Lyrikband von ihm erschien 1959 unter dem Titel „Die gläserne Kathedrale“. Es sind eindrucksvolle Exil- und Heimwehgedichte darunter, „Stalaktite aus Tränengerinn“, wie es darin einmal heißt. Ist es nicht an der Zeit, sie neu herauszugeben? Heinz Politzer: Freud und das Tragische. Hg. und mit einem einleitenden Essay von Wilhelm H. Hemecker. Wiener Neustadt: Edition Gutenberg in der Steirischen Verlagsgesellschaft 2003. 251 S. Euro 22,-/SFr 37,40 Wir gratulieren Ruth Kliiger zum Preis der Stadt Wien, der ihr am 3. Juni 2004 verliehen wurde. 19