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Bei verschiedenen Gelegenheiten erwähnte Qualtinger Jura Soyfer und bezeichnete diesen als einen für ihn verbindlichen und wenigstens zeitweilig vorbildlichen Schriftsteller. Es wundert daher nicht, dass Qualtingers eigenes literarisches Schaffen deutliche Spuren der Beeinflussung durch Soyfer aufweist, darunter sein 1954 mit Carl Merz (d. i. Carl Czell) für den Sender „Rot-Weiß-Rot“ geschriebenes Hörstück Ob wir das noch erleben, das in einem Alptraum die Umwandlung Österreichs in einen stalinistischen Satellitenstaat gedanklich durchspielt. Mit dem kruden Ausruf „Reißt’s ihnen das Beusch’1 aussi...!“ bekundet das vor dem Tribunal anwesende Volk seine Empörung. Qualtinger hat damit wortwörtlich eine Stelle aus BroadwayMelodie 1492 übernommen, und zwar aus jener Szene, in der Pepito Alibi die Seeleute zur Meuterei gegen Christoph Columbus bewegen will. In Der Burschi und sein Publikum aus der Anthologie Drei Viertel ohne Takt (1980) zeigt Qualtinger einen mittelmäßigen Schauspieler, der seine verflossene Karriere schönfärbt, dabei aber von seinem Papagei, der ihn nachäfft, ständig korrigiert und respektlos an die Wahrheit erinnert wird. Dieses Motiv des dem Menschen einen Spiegel vorhaltenden sprechenden Vogels im Käfig hat Soyfer ähnlich wie Johann Nestroy (Zampa, der Tagedieb) vor ihm verwendet, später sollte auch Elias Canetti in seinem Stück Die Hochzeit darauf zurückgreifen. In der Szene der vertrauensseligen alten Jungfer in Soyfers Der Weltuntergang wird durch die Konterkarikatur des Papageis „jedes Wort auf brutal-demaskierende Weise in sein Gegenteil verkehrt‘, um auf die Unverhältnismäßigkeit eines Anspruches hinzuweisen oder aber wie bei Qualtinger die Selbsteinschätzung als Attitüde und als traurige Täuschung zu dekuvrieren. Das sind zwar nur zwei willkürlich herausgegriffene Beispiele, die jedoch anschaulich illustrieren, dass Qualtinger gerade in dem von ihm so geschätzten Bereich der Satire von Soyfer lernen konnte — wie ja beide Autoren auf die Präzision von Sprache direkt versessen waren und ihr Rüstzeug von Nestroy und Karl Kraus bezogen, die sie, jeder auf seine Weise, favorisierten. Für die Rezeption Jura Soyfers nach dem Zweiten Weltkrieg war Qualtinger zweifelsohne ein Motor, weil er sich gegen das „systematische Vergessen“ auflehnte, welches „eine Erscheinung wie Jura Soyfer von vornherein aus der Theater- und Kulturgeschichte hinauskonstruiert und einer Vorstellung von Kultur unterliegt, in der ein Jura Soyfer einfach keinen Platz hat.‘” Qualtingers Beschäftigung zunächst mit den Bühnenwerken, später auch mit der Prosa und den Balladen, Gedichten sowie Liedern Soyfers, seine vielen Auftritte auf der Bühne und als Rezitator von dessen Texten lief synchron mit jenen in Schüben auftretenden Phasen, bei denen hierzulande Soyfer im Mittelpunkt eines freilich von Anfang an eingeschränkten Interesses stand, weil er zunächst vornehmlich in der ‚linken‘, „alternativen Kulturszene‘““ Verbreitung und Anerkennung fand. Sofort nach 1945 entdeckten Soyfer die Wiener Kleinkunstbühnen, welche seine von Remigranten geretteten und jetzt aus dem Exil mitgebrachten Stücke gewissermaßen unter der Hand „weitergegeben und gehandelt [haben] wie Zigaretten‘* und be22 reit waren, Soyfer auf die Bühne zu bringen. Seine Dramen wurden etwa im „Studio der Hochschulen“ und im „Theater am Parkring“ zum fixen Bestandteil des Repertoires, die Heimholung und Eingemeindung Soyfers war dort programmatisch gemeint. Neben Carl Sternheim, Ferdinand Bruckner, Ödön von Horväth, Georg Büchner und Nikolai Wassiljewitsch Gogol erfüllte offensichtlich auch Soyfer die Ansprüche des Studios, dessen Anliegen und ehrgeizige Ziele der zeitweilige Leiter, Friedrich Langer, so umreißt: „Wir wollen Stücke spielen, die unserer Zeit entsprechen, die ein Experiment rechtfertigen und verantworten lassen und auch Werke, an denen das Professionaltheater vorbeigeht, die es aus den oder jenen Gründen nicht auf seinen Spielplan setzt.‘° Qualtinger kam als angehender Kabarettschauspieler und -autor damals zwangsläufig mit Soyfer in Berührung und setzte sich als Kulturkritiker und Texter für den Hörfunk wiederholt mit ihm auseinander. Als ab der Mitte der 50er Jahre die anfängliche Begeisterung für Soyfer allmählich erlahmte, wendete sich auch Qualtinger nach einer Dekade öffentlichen Wirkens vorübergehend anderen Aufgabenbereichen zu. Zwanzig Jahre später brach erneut eine Soyfer-Renaissance an, die von Beginn an durch Qualtinger in Lesungen, Vorträgen oder Filmen gefördert und repräsentiert wurde. Nachdem sich Pläne für ein kommunistisches Jugendtheater, für das Qualtinger bereits als provisorischer Leiter vorgesehen gewesen war, nicht hatten realisieren lassen‘, stieß er während der Spielzeit 1946/47 zum „Studio der Hochschule“, wo er bis in die frühen 50er Jahre „als Regisseur, Mime und Beleuchter‘” arbeitete. Durch seine kurzzeitige Mitwirkung im „Lieben Augustin“ unter Carl Merz verfügte Qualtinger schon über gewisse Erfahrungen als Kabarettschauspieler, die er in das erste abendfüllende Theaterprogramm des Studios einbringen konnte. Unter der Regie von Michael Kehlmann und mit Paul Milan am Klavier feierte Die Grimasse am 11. Februar 1947 im Theatersaal des Studentenhauses in der Kolingasse 19 die Premiere. Als Gestalter dieser als „literarische Kabarettrevue“ laufenden Revue führt der Programmzettel neben Rudolf Berger, Wolfgang Gilbert, Michael Kehlmann, Helmut Qualtinger und Rüdiger von Schmeidel an letzter Stelle auch Jura Soyfer an. Dessen Stück Vineta, in dem Qualtinger den Stadtschreiber gab, bildete das ‚Mittelstück‘ der Grimasse, und es stellte die erste Aufführung eines Stückes von Soyfer in Wien nach dem Krieg dar.° Die posthume Aufnahme Soyfers in das Autorenkollektiv des Studios bedeutete aber weit mehr als Sympathie und Kollegialität: Die jungen Bühnenkünstler drückten damit ihre Hochachtung gegenüber dem drangsalierten, von den Nationalsozialisten nach Buchenwald verschleppten und dort zu Tode gekommenen Dichter aus und wiesen gleichzeitig auf die Traditionen des Wiener Kabaretts während der 30er Jahre hin mit Soyfer als dessen hervorragendsten Exponenten. Dieser Überlieferung fühlte sich das Studententheater verpflichtet und versuchte nun, daran wieder anzuschließen. Ein Rezensent des Abends sah ganz richtig, dass die Truppe ihren Erfolg zu einem Gutteil „eine[m] größeren Schatten, dessen Geist sie lebendig zu machen verstanden“, verdankte: „Jura Soyfer.‘”