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storisch relevantes Zeitkolorit zu betrachten gewesen wäre. Das in der Zwischenkriegszeit von der zeitgenössischen Publizistik heftig diskutierte Phänomen war um die Jahrhundertwende als „Amerikanismus“ bezeichnet worden, ein geflügeltes Wort, demzufolge die Vereinigten Staaten „zum globalen Gleichnis des modernen Kapitalismus, des Massenkonsums und der Massenkonsumkultur‘” avancierten. Die Veränderungen hatten sich seither noch beschleunigt, ja geradezu radikalisiert. Die Präsenz Amerikas in Gestalt der Besatzungssoldaten, die damit verbundene, sich zwangsläufig ergebende wie bewusste Einflussnahme auf die Lebens- und Alltagskultur, die enge Bindung an den von den USA bestimmten Weltmarkt sowie die zunehmende wirtschaftliche Prädominanz der Vereinigten Staaten nach 1945 konnten Skeptiker in ihrer ablehnenden Haltung gegenüber Amerika, wie sie Soyfer in Broadway-Melodie 1492 postulierte, bestärken. Die Aktualität des Dramas und die Brisanz stellten sich angesichts des Ost-West-Konfliktes im Grunde von selbst ein, die Supermacht USA lieferte durch ihr außenpolitisches Auftreten Argumente, mit denen sie sich in den Augen ihrer Gegner selber diskreditierte. Tatsächlich wurde Qualtingers Inszenierung von Broadway-Melodie 1492 unter dem Eindruck des Korea-Krieges rezipiert und bewertet. Die Modernitit dieses Stückes hing vor allem damit zusammen, dass Soyfer den Aufbau des globalen kapitalistischen Monopols und die imperialistische Neuordnung der Welt, die im Moment besonders die USA zu betreiben schienen, grundsätzlich verurteilt und generell thematisiert. „So allgemein gültig sind seine Formulierungen, daß dieses Stück vom Amerikaentdecker und seinen geldgierigen Trabanten heute wie ein Hagel von Peitschenhieben ins Gesicht der transozeanischen Hitlernacheiferer wirkt.“”® Qualtinger stimmte im Wesentlichen mit Soyfers Argumentation überein, die dieser bei der pejorativen Adaption des Lustspiels Christoph Kolumbus oder die Entdeckung Amerikas von Walter Hasenclever und Kurt Tucholsky seiner Broadway-Melodie 1492 unterlegt hatte. Während Letztere der USamerikanischen Demokratie noch die Möglichkeit zusprachen, ein Bollwerk gegen den sich ausbreitenden Faschismus bzw. Nationalsozialismus bilden zu können, fehlt bei Soyfer diese optimistische Sicht völlig. Weil „Auucıika rein negativ gesehen ist, mag sich der Zuschauer die Frage stellen, worin sich die durch New York symbolisierte Inhumanität von jener des NaziRegimes überhaupt noch unterscheidet.‘ Amerika ist für Soyfer vor allem eine exemplarische Chiffre, allerdings eine mit Ablaufdatum. Amerika fungiert hier folglich als eine disponible Metapher für eine aus dem Lot geratene Gesellschaftspolitik. Sie stellt einen unhaltbaren, weil asozialen und ökonomisch ungerechten Zustand dar, der irgendwann einmal durch die sozialrevolutionären Kräfte, die Arbeiterbewegung und die mit ihr verbündete ‚linke‘ Intelligenz, welche für sich beanspruchte, die Errungenschaften der Aufklärung und des Liberalismus weiterzuführen, überwunden sein würde. Dass Soyfer ein Lehrstück geschrieben hatte, ging 1952 bei der Beurteilung von Broadway-Melodie 1492 in der Diktion des Kalten Krieges unter. Die Charakterisierung der Rollen und der schauspielerischen Leistungen in der Presse verraten Lagerdenken und ideologische Befangenheit. Die kommunistische Österreichische Zeitung sah in Qualtingers „listigem, bodenlos gemeinem Vendrino“, eine Inkarnation des „überseeischen Businessman“, welcher „den Frieden als geschäftsabträglich fürchtet“. Ausgestattet mit den Accessoires der amerikanischen Wohlstandswelt stelle er „die Weltmachtaspiranten von heute“ bloß, welche die pekuniäre Unterwerfung der Erde forcierten. 24 „Ob er in klebriger Freundlichkeit zerfließt oder ‚scharf durchgreift‘, ob er Phrasen drischt oder intrigiert, immer kopiert er blendend die Kolonialherren unserer Tage.“ Manche verzichteten lieber auf eine weltanschauliche Debatte und sprachen bloß von der „hinreißenden Respektlosigkeit“ oder von „eminenter Aktualität“, ohne weiter zu präzisieren.”' Andere interessierten sich für den vermeintlichen Unterhaltungswert der Szenenfolge und sahen in dieser Aufführung eine erneute Bestätigung für Qualtingers Ruf als umtriebiger Spriihgeist und kabarettistischer SpaBmacher.” Am deutlichsten formulierte die Wiener Zeitung ihre Ablehnung. Fiir sie fiel die Agitation gegen die USA zu heftig aus, war die Brandmarkung von Erscheinungen, die gemeinhin mit der amerikanischen Lebens- und Leitkultur assoziiert wurden, zu einseitig und abgeschmackt. „Daß bei der Erschließung neuer Weltteile für die weiße Rasse Ströme von Blut vergossen wurden, macht die spaßhafte Betrachtung der verschiedenen Conquistas stets nur für Geister kleinsten Formates möglich. Daß es aber nach dem ungeheuren Leid der Massenvernichtungslager unserer Gegenwartsgeschichte noch viele Leute geben sollte, die jüdelnde Indianer belustigend finden, ist sehr zu bezweifeln.“ Neben Geschmacksschnitzern attestierte sie der Einstudierung Anachronismus und Überheblichkeit. Ansonsten hätten die für die Aufführung Verantwortlichen hauptsächlich auf Polarisation gezielt: „Und die politische Tendenz des Ganzen ist ein gewisser aufgewärmter Salon- bzw. Kabarettbolschiwismus [sic!] der zwanziger Jahre, modernisiert durch liebedienernde Anleihen bei der Propaganda einer nationalistischen Geistesrichtung, die heute versucht, die zivilisatorischen Verdienste Amerikas — nach deren vergötzender Anbetung von einst — auf die Erfindung des Coca-Cola zu reduzieren.‘ Qualtinger trat nicht nur als Schauspieler in Soyfers Dramen auf, sondern er setzte sich auch publizistisch für ihn ein, nachdem er in die Kulturredaktion der Welt am Abend, einer von der französischen Besatzung ins Leben gerufenen Wiener Tageszeitung, bestellt worden war. Binnen eines halben Monats schrieb Qualtinger im März 1948 mehrere Filmrezensionen und Theaterkritiken, welche er mit „H. Helmuth“ oder „Hans Helmut“ unterzeichnete. Eine Inszenierung von Broadway-Melodie 1492 im Volksbildungshaus Margareten durch das Kunstkollektiv der Sozialistischen Bildungszentrale am 17. März bewog Qualtinger zu einer Hommage an Jura Soyfer. Das Wissen um Soyfer war damals eher gering und selbst der Zugriff auf seine Texte immer noch schwierig, obwohl 1947 Otto Tausig im Globus-Verlag eine Auswahl von ihm bearbeiteter Spielstücke Soyfers ediert hatte, die den Kellertheatern als Grundlage für ihre Aufführungen dienen sollte. Damit wird wohl auch zu erklären sein, dass Qualtinger, dem bei der Nennung des Titels von Soyfers Stück ein Ziffernsturz passiert, die Darbietung irrtümlich als eine nachgeholte „Uraufführung“ bezeichnet. Tatsächlich hatte ja das Kabarett „Regenbogen“ (vormals „ABC“) im Cafe Arkaden vom 20. November 1937 bis 21. Januar 1938, also noch zu Lebzeiten Soyfers, Broadway-Melodie 1492 gespielt. Qualtinger rechnet mit der weitgehenden Unbekanntheit Soyfers, weshalb er eine kompakte Einführung gibt. Seine Begeisterung für den als österreichischen Georg Büchner apostrophierten Schriftsteller ist unverkennbar, denn Qualtinger schildert in wenigen Sätzen Soyfer so anschaulich, dass der Eindruck entsteht, er habe ihn selber noch gekannt und sein Wirken unmittelbar beobachtet. Er streicht die Rastlosigkeit eines sich ständig exponierenden Intellektuellen heraus, der aber