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zielstrebig an sich arbeitete, um sich geistig zu vervollkommnen. Qualtinger konturiert das Porträt eines genialen Menschen mit den Zügen eines Bohemiens, der vom austrofaschistischen Regime Schuschniggs bedroht und von den Nationalsozialisten getötet wurde, der ungeachtet von Verfolgung und Gefangennahme seinen künstlerischen wie ethischen Maximen die Treue hielt. Er präsentiert Soyfer als einen, der wegen seiner Kompromisslosigkeit politisch und weltanschaulich anecken musste und deshalb zwangsläufig zu einer antagonistischen Existenz gezwungen zu sein schien: „Durch Schere und Rotstift verstümmelt, führte er in den schwarzen Jahren des Ständestaates sein armseliges und innerlich so reiches Dasein.“ Qualtinger ordnet Soyfer jenem Erbe der Wiener Literatur und des Volkstheaters zu, das ihn mit Johann Nestroy, Ferdinand Raimund oder Peter Altenberg verbindet. Er rechtfertigt seine Würdigung, weil er in Soyfer einen selbstlosen Autor sieht, dessen Schreiben in den Dienst des Humanen gestellt und den Anliegen seiner Zeit aufgeschlossen gewesen wäre. Im Werk dieses Phantasten und Realisten gleichermaßen glaubt Qualtinger eine vitalistisch-fröhliche Weltsicht postuliert, die geeignet sei, stimulierend auf die brach liegende künstlerische Gegenwart zu wirken, um besonders der Jugend ein Ansporn sein zu können. Qualtinger erhebt Soyfer folglich zu (s)einem Säulenheiligen, den er ,,[dJurch und durch Oesterreicher“ nennt. Damit revidiert er das hartnäckige und verzerrte Bild vom Kommunistendichter und Asphaltliteraten.”” Durch seine Besprechung nimmt er Soyfer gleichsam vom Index und will ihn in einen Kanon offiziell wohl gelittener Autoren einreihen. Der Artikel kann als ein Versuch Qualtingers gelten, den zu Unrecht vergessenen und verfemten Schriftsteller in der Öffentlichkeit zu rehabilitieren. Der Rezensent Qualtinger hält in seinem Artikel Vorgaben der restaurativ und konservativ ausgerichteten heimischen Kulturpolitik nach 1945, die Richtlinien für eine genuin ‚österreichische‘ Literatur ausgegeben hatte, ein. Aber gleichzeitig widersetzt er sich dem dadurch, dass er prononciert für einen im Verständnis der auf Konkordanz bedachten Koalitionsregierung ideologisch nicht genehmen sowie politisch wenig brauchbaren Schriftsteller eintritt und ihn zu integrieren sucht. Qualtinger weicht auch, was die teilweise bis zum Extrem getriebene und skurrile Züge nicht entbehrende Distanzierung des ‚Österreichischen‘ vom ‚Deutschen‘ betrifft, von der offiziellen kulturpolitischen Linie ab, die sich allem, was den Eindruck erweckte, ‚links‘ zu stehen, reserviert bis ablehnend verhielt. Soyfer „ist Büchner, Wedekind, Francois Villon in einem“, schreibt Qualtinger in seinem Beitrag, „immer mit einem Fuß im Gefängnis, kämpferisch, leidenschaftlich, subjektiv, von brausendem Leben erfüllt.“ Qualtinger betont die Nähe Soyfers zu Georg Büchner, eine Nähe, die außer in biografischen Berührungspunkten wie dem frühen Tod, in vergleichbaren menschlichen Eigenschaften wie Jugendlichkeit, frühreifem Intellekt und dichterischer Angriffslust, in der schicksalhaften Erfahrung von Zensur und Verfolgung sowie in ähnlich bedrückenden Lebens- und beschränkten Arbeitsverhältnissen bestehe. Indem er durch den Vergleich mit Büchner Soyfer aufwertet, rückt er ihn als ‚österreichische‘ Entsprechung gleichzeitig wieder von der ‚deutschen‘ Vergleichsgröße ab. Mit anderen Worten: Was Büchner für Deutschland ist, soll Soyfer für Österreich sein. Berücksichtigt man die Tatsache, dass für die Nachkriegszeit ein buntes „Nebeneinander von verschiedenen Theaterauffassungen, unterschiedlichem Österreich-Bewußtsein und Antifaschismus-Verständnis‘“° bestimmend war, dann pendelt Qualtinger dem entsprechend unentschieden zwischen Positionen, wie sie zum einen von ‚linken‘, fallweise mit der kommunistischen Partei verbundenen Intellektuellen vertreten und zum anderen von offizieller Seite gewünscht, und deshalb auch kulturpolitisch subventioniert wurden. Mit der auffälligen Betonung des ‚Österreichischen‘, das bisweilen schon wesenhafte Züge annimmt, traf Qualtinger seinerseits eine dezidierte Absage an den Nationalsozialismus, der nach der offiziellen Lesart ‚nur‘ als Bestandteil der ‚deutschen‘ Geschichte gelesen werden sollte: „Antifaschistische Haltung meinte damals eine Betonung des Österreichischen durch österreichische Stoffe und Autoren österreichischer Herkunft als ein bewußtes Distanzieren von der nun als un-österreichisch empfundenen NS-Diktatur.“” In Qualtingers Würdigung fällt ein weiterer Name, der im Kontext mit Soyfer an Bedeutung gewinnt: Frangois Villon. 1947, etwa zehn Jahre nachdem Soyfer seinen Aufsatz Frangois Villon. Der unsterbliche Lump für den Wiener Tag geschrieben hatte, beschäftigte sich Qualtinger mit der französischen Dichter-Legende, als er zusammen mit Helmut H. Schwarz das Bühnenstück Der himmlische Galgenvogel” verfasste. Grob gesehen, stellt dieses einen verspäteten Vertreter der erneuten und intensiven Beschäftigung mit Francois Villon, die zur Jahrhundertwende einen Aufschwung genommen hatte, dar. Das Interesse war insbesondere durch die Dreigroschenoper (1928) von Bertolt Brecht bzw. Kurt Weill ausgelöst worden, wobei der von Alfred Kerr angestrengte Plagiatsprozess gegen Letztere die plötzliche Begeisterung mitbeeinflusst haben wird.” Neben Fritz Habeck, der Villon im Roman Der Scholar vom linken Galgen (1941) verewigte, setzte sich in Wien Jura Soyfer essayistisch mit dem „entwurzelte[n] Intellektuellen in einer Zeit zwischen zwei Zeiten‘ auseinander. Qualtingers Villon, eine literarischfiktive Figur vor der geschichtlichen Folie des Hundertjährigen Krieges, hat mit dem authentischen Villon nicht viel mehr als den Namen gemein. Hier wird diese Gestalt, gekleidet in ein historisches Kostüm und verstrickt in die Konflikte an der Wende vom Spätmittelalter zur frühen Neuzeit, als Vehikel zum Transport sozialkritischer Ansichten sowie für gesellschaftspolitische Anliegen, die auf die Gegenwart bezogen sind, benützt. Seine Konzipierung stimmt jedoch mit einigen zentralen Gedanken Soyfers zu Frangois Villon überein. Wie der Villon im Himmlischen Galgenvogel steht er dort wegen des Verlusts aller Gewissheiten und alles Verbindlichen auch auf der Kippe, er „zweifelt als moderner Mensch an festgelegten Wahrheiten und an dem eigenen Gewissen“.*' Beide Autoren erfassen Villon vor dem Hintergrund eines zusammenbrechenden Weltbildes, jeder von ihnen betont die Unentschiedenheit des von den Sprengkräften der Epoche Hin- und Hergerissenen, die sich im Himmlischen Galgenvogel in widersprüchlichen und fragwürdigen Verhaltensweisen des Protagonisten artikuliert. Soyfer wertet das heillose Chaos und die kräftige Durchmischung heterogener weltanschaulicher Positionen in jener Ära positiv. Zuversichtlich glaubt er, dass im Verlauf des 15. Jahrhunderts „die ersten Elemente des künftigen Proletariats“ zum Leben erweckt worden wären. Er selber fühlt sich Villon nahe. Für ihn ist der Lumpenproletarier und begabte Stellvertreter des Vierten Standes ungeachtet der geschichtlichen Ferne und zeitlichen Distanz eine aktuelle Gestalt. Soyfer bezeichnet ihn als das „Paradigma des modernen Schriftstellers im Übergang zwischen den Epochen des Kapitalismus und des Sozialismus“, deren folgenreiche Entdeckung für die deutsche Literatur zur Jahrhundertwende Soyfer regelrecht als Vorherbestimmung em25