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Seit Jänner 1915 war der Reserve-Offizier Musil als Adjutant des Landsturm-Infanterie-Bataillons Nr. 169 in den trientinischen Landstädten Levico und Pergine stationiert. Es war ein Dienst in der Etappe, zwar dicht an der Grenze, aber eben Etappe. Martha Musil schrieb damals in einem Brief: „Die Lage ist wesentlich entspannter als früher, es sind bestimmte Anzeichen dafür vorhanden, die mein Mann weiß [...]; und auch für den Außenstehenden ist die Tatsache, daß hier, so nahe an der Grenze, sehr viele Verwundete untergebracht sind, ein beruhigendes Zeichen, denn die würden bei Gefahr zuerst fortgeschafft werden.‘ Musils Gattin konnte wie viele Offiziersfrauen mit ihrem Mann am jeweiligen Stationierungsort zusammenleben: „Wir haben eine große Offiziersmenage und leben ganz lustig, - ich versuche nicht an die Wahrscheinlichkeit, daß mein Mann noch ins Feld muß, zu denken.“ Sofort nach der Kriegserklärung des Königreiches Italien an Österreich-Ungarn am 23. Mai 1915 wurde Oberleutnant Musil jedoch mit seiner Landsturm-Infanterieeinheit in den Kampfeinsatz verlegt. Es ging im Eilmarsch von Pergine — laut Musil „ein Maulbeer und Wein bauendes, verschlossen reiches italienisches Städtchen“ — am Eingang des Fersentals nach der archaischen Ortschaft Palai am Talende. Mehr als 20 Kilometer waren zu überwinden und ein großer Höhenunterschied; eine Straße mußte sich das Militär in den kommenden Monaten erst selber bauen. Der Autor beschrieb den Weg später in seiner Novelle „Grigia“: „Er hing an der Lehne eines Hügels; der Saumweg, der sie hingeführt hatte, sprang zuletzt förmlich von einem großen platten Stein zum nächsten, und von ihm flossen, den Hang hinab und gewunden wie Bäche, ein paar kurze steile Gassen in die Wiesen.“ Auf den Großstädter Musil machte die extreme Landschaft des unzugänglichen Fersentals jedenfalls gehörigen Eindruck. Neben den beiden ungleichen Liebenden, dem Bergwerksingenieur Homo, der „die alten venezianischen Goldbergwerke im Fersental wieder aufschließen wollte“, und der Bäuerin Lene Maria Lenzi, genannt Grigia, ist das Weichbild des Tales quasi als Hauptdarsteller in die Erzählung eingegangen: „Auch die Landschaft um dieses Dorf war nicht ohne Sonderbarkeiten. Sie bestand aus einem mehr als halbkreisförmigen Wall hoher, oben von Schroffen durchsetzter Berge, welche steil zu einer Senkung abfielen, die rund um einen in der Mitte stehenden, kleineren und bewaldeten Kegel 30 lief, wodurch das Ganze einer leeren gugelhupfförmigen Welt ähnelte, von der ein kleines Stück durch den tief fließenden Bach abgeschnitten worden war, so daß sie dort klaffend gegen die hohe, zugleich mit ihm talwärts streichende andere Flanke seines Ufers lehnte, an welcher das Dorf hing.“ Das Militär richtete sich, so gut es ging, in Palai ein: „Stand man am Weg, so hatte man nur vernachlässigte und dürftige Bauernhäuser vor sich, blickte man aber von den Wiesen von unten herauf, so meinte man sich in ein vorweltliches Pfahldorf zurückversetzt, denn die Häuser standen mit der Talseite alle auf hohen Balken, und ihre Abtritte schwebten abseits von ihnen wie die Gondeln von Sänften auf vier schlanken baumlangen Stangen über dem Abhang.“ Die Offiziere, darunter Musil, logierten etwas bequemer, und zwar im Pfarrhof. Die Gefechte am Fersentaler Frontabschnitt dürfte den Dichter anfangs wenig beeindruckt haben. „Musil machte Notizen über Artillerie-Duelle, die ihn an steinewerfende Knaben erinnerten, und hielt am 1. Juni 1915 fest, das Leben sei unverändert wie stets, mit Ausnahme der zwei Patrouillentage, also Erledigung der Post, Telefongespräche, Kartenspiel“, schreibt Karl Corino in seiner neuen, gewichtigen Musil-Biographie. Mehr Eindruck als der Krieg machte dem Offizier und Dichter offenbar das, was die „merkwürdigen Leute“ zu sagen hatten. Er bekam jedenfalls Sätze und Wendungen zu hören wie „Geh ea!“, ,,auf’s g’schwindige Wiederseh’n“, ,,i seh’s ihm eini“ und „ah, das is an extrige Sküß“ und notierte all das mehr oder minder genau in seiner Novelle „Grigia“: „Er fragte sie, was das heißen solle, aber sie wollte nicht mit der Sprache heraus, und er mußte selbst erst lange nachdenken.‘ Was der Dichter einige Jahre später an Gesprochenem mehr oder weniger genau in seinen literarischen Text übernommen hat, war im Prinzip eine Sprache aus dem 13. Jahrhundert, als Nord- und Südtiroler Bergarbeiter und Bauern ins Valle del Försina einwanderten. Sie gründeten auf der Schattseite des „Bersntols“, wie sie es nannten, die Dörfer St. Franz, St. Felix, Eichleit, Gereut, Florutz und Palai. Auf der Sonnseite lag und liegt bis heute der italienischsprachige Ort Sant’Orsola Terme. Es waren die Bodenschätze des Bersntols, deren Ausbeutung zumindestens bis ins 19. Jahrhundert ausreichte, um allen Bewohnern, Italienern wie Tiroler Kolonisten, ein Auskommen zu ermöglichen. In gewisser Weise war die Geschichte des Fersentales jedenfalls bis zum Ersten Weltkrieg durchaus eine Erfolgsstory vom Zusammenleben zweier Ethnien — wenn auch gelegentlich mehr oder minder heftig übereinander gespottet worden sein dürfte. So wurden und werden die Fersentaler von ihren italienischen Nachbarn mit dem Spitznamen „Möcheni“ nach dem Verb mochn — machen bedacht: Das Valle del Fersina wird bis heute auch Valle dei Möcheni genannt. Magdalena Maria Lenzi Martha Musil war inzwischen aus dem Frontgebiet, nachdem sie den Gatten noch einen Tag lang in Palai besucht hatte, nach Innsbruck abgereist. Was danach im Fersental weiter geschah, nämlich eine der großen Liebesgeschichten der Weltliteratur, läßt sich in „Grigia“ nachlesen: „Sie hieß Lene Maria Lenzi; das klang wie Selvot und Gronleit oder Malga Mendana, nach Amethystkristallen und Blumen, er aber nannte sie noch lieber Grigia, mit langem I und verhauchtem Dscha, nach der Kuh, die sie hatte, und Grigia, die Graue rief. Sie saß dann, mit ihrem violett braunen Rock und dem gesprenkelten Kopftuch, am Rand ihrer Wiese, die Spitzen der Holländerschuhe in die Luft gekrümmt,