OCR
die Hände auf der bunten Schürze verschränkt, und sah so natürlich lieblich aus wie ein schlankes giftiges Pilzchen, während sie der in der Tiefe weidenden Kuh von Zeit zu Zeit ihre Weisungen gab.“ Lene Maria Lenzi ist ein Klarname. Karl Corino schreibt: „Musil machte sich nicht einmal die Mühe, die Identität der Frau zu verschleiern. In der Annahme, sein Text werde sich nicht in hundert Jahren ins Fersental verirren, folgte er der Magie des biblischen Namens (Maria Magdalena!) und gab ihre bürgerliche Identität preis. Der Grabstein auf dem kleinen Friedhof von Palai mit ihrem Medaillon verrät die Lebensdaten (15.5. 1880 bis 6.3. 1954) und daß sie eine Art von bäurischer Doppelgängerin Marthas war. Auch sie hatte den großen Mund und die scharfen Falten von den Nasenflügeln zu den Mundwinkeln — die conditio sine qua paene non für Musils Erotik.“ In der Novelle liest sich Grigias physiognomische Beschreibung so: „Und das Gesicht, das zu ihr gehörte, war ein ein wenig spöttelndes Gesicht, mit einer feinen, graziösen Gratlinie, wenn man es von der Seite ansah, und einem Mund, der ihm auffiel. Dieser Mund war geschwungen wie Kupidos Bogen, aber außerdem war er gepreßt, so wie wenn man Speichel schluckt, was ihm in all seiner Feinheit eine entschlossene Roheit, und dieser Roheit wieder einen kleinen Zug von Lustigkeit gab [...].“ Was Musil in der Novelle über die Fersentalerinnen sagt - „Sie verfügten über eine verwirrend freie Freundlichkeit und Liebenswürdigkeit.“ — galt offenbar auch für die unverheiratete Lenzi. In des Dichters Tagebuch aus jenen Tagen liest sich das so: „Er liebt eine Frau und kann nicht widerstehn, eine andere zu probieren. Die Forderung der Treue ist, die erste hors de concours zu rücken. Seine Form dafür die ekstatische Liebe. Indem er ekstatisch liebt, kann er den niedrigen Lüsten Freiheit geben. Genügt das nicht, so kommt die Demütigung der zweiten.‘ Da nützte es auch nichts, wenn Martha Musil den Strohwitwer am 5. Juni in einem Brief mißtrauisch fragte: „Ist Erdgeruch nahe? Und Jauche? Und starkes Buntes mit übersonntem Gesicht?“ Die ungleiche Romanze zwischen dem Intellektuellen Homo - Robert Musil und der Bergbäuerin Grigia-Lene Maria Lenz macht den nicht unerheblichen Reiz der Novelle aus, mit der Musil 1924 erfolgreich an seine Vorkriegspublikationen anzuschließen vermochte. In der Literatur endet die Beziehung tragisch: Ein eifersüchtiger Nebenbuhler schließt die Liebenden bei einem Stelldichein in einem aufgelassenen Bergwerk ein, wo Homo verschmachtet, Grigia aber durch eine schmale Felsspalte entkommen kann. In der Realität wird Oberleutnant Dr. Robert Musil Ende August 1915 ganz einfach an einen anderen Frontabschnitt versetzt. Im Gepäck hat er ein Tagebuch mit dem gesamten literarischen Material zu „Grigia“. Fünf Jahr später wird er sie zu schreiben beginnen. Seine Fersentaler Sommerliebe sieht er übrigens niemals wieder. Ende einer Sprachinsel? Was das Überleben des Sprachinsel-Idioms im vom binnendeutschen Sprachraum isolierten Fersental betrifft, war bereits Robert Musil zur Zeit des Ersten Weltkrieges skeptisch. Und er schien Recht zu behalten. Schon in den Zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts setzte eine massive Abwanderung der Fersentaler Bauern in die trientinischen Industriezentren ein. Während des Zweiten Weltkrieges optierten viele Bersntoler im Sinne des Abkommens zwischen Hitler und Mussolini für eine Aussiedlung nach Böhmen, in die Gegend von Budweis. Darunter auch Magdalena Maria Lenzi. Nicht alle sind von dort wieder zurückgekehrt. Heute sprechen zum Beispiel im 120 Einwohner zählenden Dorf Garait, das längst zum italienischen Frassilongo geworden ist, vielleicht noch zehn, 15 ältere Leute den althergebrachten Sprachinseldialekt. Anders die Situation in Vlarötz, auf italienisch Fierozzo, in Oechlait, auf italienisch Roveda und vor allem in Palai, auf italienisch Palü del Fersina. Ganz allgemein leiden die Fersentaler Ortschaften aber an Überalterung, der höchsten im ganzen Trentino. Im einzigen Kindergarten und der Grundschule des Tales wird neben Italienisch seit einigen Jahren auch Hochdeutsch gelehrt und gelernt, nicht jedoch der Sprachinseldialekt. Die meisten Eltern sind froh darüber, dass ihren Kindern ausschließlich Standarddeutsch beigebracht wird. Durch den langsam auch im Fersental aufkeimenden Tourismus sei das, so meinen sie, für die berufliche Zukunft wichtig. Die Mehrheit der Eltern sieht aus diesem Grund auch nur wenig Sinn darin, eine archaische Mundart aus dem Mittelalter weiter zu tradieren, die kein Gast aus Wien oder Wuppertal versteht, jedenfalls nicht wirklich. Christiane M. Pabst, geb. 1973, studierte u.a. Germanistik und Philosophie; Spezialgebiet Soziolingiuistik. Verschiedene Literaturpreise. Derzeit Postgraduate-Studium in Brasilien. — Manfred Wieninger, geb. 1963 in St. Pölten, veröffentlichte die Kriminalromane „Der dreizehnte Mann“ und „Falsches Spiel mit Marek Miert“, das Nachschlagwerk „St. Pöltner Straßennamen erzählen“ und den Gedichtband „Regen im Werkskanal“. — Beide zusammen verfaßten den Gedichtband „leichtgläubig liebende“ (2004). 31