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RN ORPHEUS TRUST ORPHEUS IN DER ZWISCHENWELT „Ich fürchte mich vor gar nix mehr. Nach dem, was wir mitgemacht haben, wovor soll man sich noch fürchten ...“" So erinnert sich Norbert Brainin an die Märztage 1938 und die Zeit vor seiner Flucht nach Großbritannien. Geboren wurde Norbert Brainin am 12. März 1923 als ältestes Kind jüdischer Eltern in der Rueppgasse im zweiten Wiener Gemeindebezirk. Sein Vater stammte aus Rußland und war vor der Einberufung in die zaristischen Armee nach Wien geflohen, seine Mutter war die Tochter eines k.u.k. Offiziers aus Tarnow — „und ich, ich bin a echt’s Weanakind‘“. Nach der Volksschule in der Pazmanitengasse besuchte er das Julius Chajes-Gymnasium. Der Schulweg war alltäglich mit antisemitischen Anpöbelungen verbunden — großgewachsen und stark, lernte er früh, sich zu wehren. Sein Cousin Max’, Bruder des Schriftstellers Fritz Brainin, erteilte ihm mit sieben Jahren den ersten Geigenunterricht (später auch Nachhilfe in Latein und Mathematik) und stellte bald fest, daß er außerordentlich begabt war und einen ‚wirklichen‘ Lehrer brauchte. Als 1931 Norberts Vater verstarb — er war Kürschner gewesen und führte mit seinen Brüdern ein Geschäft — sparte sich die Mutter das Geld für den Musikunterricht ihres Sohnes buchstäblich vom Mund ab. Nach zweijahrigem Unterricht bei Theodor Paschkus* und Salomon Auber, kam er als einer der ersten Schiiler des jungen Ricardo Odnoposoff ans Neue Wiener Konservatorium. Odnoposoff, 1935 mit 21 Jahren Konzertmeister der Wiener Philharmoniker und bereits selbst ein Star, wollte Norbert Brainin als ‚Geigenwunderkind‘ lancieren — Norbert aber meinte, daß er noch nicht so weit sei und noch viel dazuzulernen hätte. In den nächsten Jahren wurde er von „Tante Rosa“, Rosa Hochmann-Rosenfeld°, Schülerin von Jakob Grün und Kollegin von Carl Flesch, privat unterrichtet. ,, Von der hab ich was gelernt, was ich von Odnoposoff damals nicht lernen konnte: Ich hab irgendwie musizieren gelernt. Sie hat mir Nuancen beigebracht.‘” Zwei Monate vor dem sog. „Anschluß“ Österreichs an Hitler-Deutschland verstarb auch Norberts Mutter, Norbert und sein Bruder Hugo kamen zu einem Onkel, die kleine Schwester Renee zu einer Tante. Nach den Novemberpogromen, an die sich Norbert Brainin sehr genau erinnert — „natürlich hat man sich gefürchtet, man hat sich nur gefürchtet. Aber hat damit gelebt. Ich fürchte mich seither vor gar nix mehr. Überhaupt nix mehr“ —, konnten Norbert und seine Geschwister Hugo und Renée am 22. Dezember 1938 Wien verlassen und über Vlissingen nach London entkommen. Durch eine Zufallsbekanntschaft mit einem Vertrauten von Lord Winterton hatte die Familie ein ‚Affidavit‘ für Großbritannien erhalten. In London erfüllte sich sein Herzenswunsch: er wurde auf Empfehlung von Rosa Hochmann-Rosenfeld Schüler des berühmten Geigenpädagogen Carl Flesch‘. „Carl Flesch verlangte zweieinhalb Guinees (fast anderthalb Pfund) die Stunde, zwei Pfund hat damals ein normaler Arbeiter in der Woche verdient. Mein Onkel hat ihn einen halben Guinee heruntergehandelt.“ Der Unterricht endete als Carl Flesch im Sommer1939 eine Professur am Koninklijk Conservatorium in Den Haag, Nieder32 lande, annahm. Flesch empfahl seinen Schüler seinem langjährigen Assistenten Max Rostal?, der ihn bis 1940 unterrichtete. 1941wurde Norbert Brainin, wie alle NS-Flüchtlinge, als ‚enemy alien‘ interniert, zunächst in Prees Heath und anschlieBend auf der Isle of Man. In Prees Heath lernte er durch den aus Klagenfurt stammenden Pianisten und Klavierbegleiter Dr. Ferdinand Rauter", den späteren Mitbegründer der AngloAustrian Music Society, den jungen Geiger Hans Schidlof kennen, der ebenso vor dem Nazi-Terror hatte fliehen müssen, und mit dem ihn eine lebenslange Freundschaft verbinden sollte. Schidlof, 1922 in Göllersdorf geboren, hatte vom einzigen Musiklehrer im Dorf das Geigenspiel gelernt. Als Schüler in einem katholischen Internat wurde sein Talent erkannt und gefördert. 1938 kam er mit einem Kindertransport nach England — seine Eltern kamen nicht mehr rechtzeitig heraus und wurden deportiert und ermordet. Mit Hilfe eines Stipendiums wurde er als Schüler an Englands renommiertester Rugby-Boarding School in Tiverton aufgenommen. Einem progressiven Lehrer war es zu verdanken, daß er statt Rugby zu spielen Geige üben konnte und sogar Konzertmeister im Schulorchester wurde. Nach dem Kriegseintritt Großbritanniens wurde Tiverton evakuiert und Schidlof mußte nach London übersiedeln. Ein Stipendium für die Royal Academy of Music konnte er aus Geldmangel nicht annehmen.'' Die Internierung brachte aber eine Schicksalswende. Mit Norbert Brainin spielte Schidlof in Prees Heath Mendelssohns Violinkonzert auf zwei Geigen: Hans Schidlof spielte den Solopart und Norbert übernahm „den Orchesterpart“, den er für Geige umgeschrieben hatte, da Schidlof seine Notenschrift nicht lesen konnte. Auch ein von Brainin selbstverfaßtes Werk für zwei Geigen wurde aufgeführt. Von Prees Heath kamen die beiden Musiker in verschiedene Internierungslager auf der Isle of Man. Norbert Brainin sollte bereits nach zwei Monaten wieder in die Freiheit entlassen werden, als sich herausstellte, daß er noch unter 18 und damit rechtswidrig interniert war. Nach einem Umschulungskurs wurde er als ,unskilled machine tool fitter‘ in der Kriegsindustrie eingesetzt. Die ,refugees‘ hatten zeitweise Auftrittsverbot als Musiker und mußten in Industriebetrieben arbeiten, er konnte aber anfangs noch bei Konzerten der Flüchtlingsorganisationen, u.a. beim Austrian Centre, beim Freien Deutschen Kulturbund und bei den Gallery Concerts mitwirken. Auf Dauer machte die auslaugende Arbeit es unmöglich. Als er knapp vor Kriegsende endlich von der Kriegsarbeit befreit wurde, mußte er auf der Geige fast von vorne anfangen. Hans Schidlof lernte im Internierungslager Onchan auf der Isle of Man seinen Altersgenossen Siegmund Nissel aus Wien kennen, auch dieser ein junger Geiger, der dem NS-Regime entflohen war. Nissel, geboren in München, war nach dem frühen Tod seiner Mutter mit seinem Vater nach Wien in die Wolfersberggasse im 14. Bezirk übersiedelt, wo er die Volksschule in Hütteldorf und anschließend das BRG XIV besucht hatte. Er hatte sechsjährig bei einer Nonne in München mit der Geige angefangen und bei einem Konzertmeister des Bayrischen