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ORPHEUS IN DER ZWISCHENWELT Rundfunkorchesters weitergelernt und wurde in Wien Schüler des Wiener Philharmonikers Max Weissgerber. Als Emil Hauser” nach Wien kam, um junge Musiker für das Palestine Conservatoire in Jerusalem auszusuchen und ihnen damit die Flucht aus Wien zu erméglichen, hatte Nissel sich beworben, bekam aber kein Immigrationszertifikat von der britischen Mandatsmacht. Nach dem Einmarsch Hitlers wurde er ‚umgeschult‘: er mußte als Jude die Schule verlassen und in das Chajes-Gymnasium wechseln. Am 10. November wurde die Schule von einer wütenden Nazi-Meute bedroht, sein Vater wurde verhaftet. „... am 10. November wurde ich der Erwachsene. Da hab dann ich entschieden, was passiert und was nicht passiert. Aber es ist meinem Vater gelungen, mich auf einen Kindertransport zu bringen, ich weiß nicht, wie. Und ich bin dann mit einem Kindertransport aus Wien herausgekommen ... Aber mir ist es gelungen, auch meinen Vater nach England zu bekommen. Ich bin einfach die Häuser entlanggegangen in Richmond, Twickenham, und hab gesagt, mein Vater ist noch in Wien, würden Sie garantieren? Und da war eine Familie, die das getan hat.“ Schidlof und Nissel blieben über ein Jahr interniert, wurden dann aber mit Hilfe eines findigen Paragraphenkenners (auch hier war wieder Ferdinand Rauter im Hintergrund aktiv) als „musicians of distinction“ freigelassen. Nissel leistete nach der Entlassung Kriegsarbeit in einer Eisengießerei, Schidlof bekam eine Ausbildung als Zahntechniker und leistete Kriegsdienst in diesem Beruf. Durch die Vermittlung von Ferdinand Rauter und Norbert Brainin wurden nun auch Siegmund Nissel und Hans Schidlof Schüler Max Rostals. Die ersten Stunden bestanden aus „leeren Saiten-Streichen“. Durch Suzanne Rozsa“, eine aus Wien geflohene Geigerin, die in Wien bei Ernst Morawec an der Musikakademie studiert hatte und in London auch von Max Rostal unterrichtet wurde, lernten die österreichischen Exilanten den englischen Cellisten Martin Lovett kennen. Schidlof, der sich auf Anregung von Max Rostal („Hans klingt nicht professionell‘“') inzwischen Peter nannte, lernte um auf Bratsche. Bereits im Jahr 1946 gewann Norbert Brainin die Carl Flesch-Goldmedaille, im Jahr darauf wurde in London das Quartett gegründet. Das eigentliche Debut fand statt in Dartington unter dem Namen Brainin Quartet'‘; das offizielle Debut des später weltberühmten Amadeus Quartett aber fand Anfang Januar 1948 in der Londoner Wigmore Hall statt. Imogen Holst, die Tochter des englischen Komponisten, trug das finanzielle Risiko und steuerte 100 Pfund bei — das Konzert war aber restlos ausverkauft. Nach diesen ersten Auftritten hatte das Quartett fünf Werke im Repertoire — so war fast jedes weitere Konzert für die Musiker eine ‚Erstaufführung‘: gearbeitet, geprobt, geübt wurde Tag und Nacht. 1950 fuhr das Quartett als erstes englisches Ensemble nach Deutschland — fiir Norbert Brainin war das Konzert in den Trümmern von Hamburg ein unvergeßliches Erlebnis. „Damals habe ich mein Kriegsbeil begraben“. In gleichem Jahr heiratete der Cellist Martin Lovett seine langjährige Freundin Suzanne Rozsa. 1957 war das Amadeus Quartett erstmals in Wien zu hören — es war für die Musiker die erste Begegnung mit ihrer ehemaligen Heimatstadt. „... unser Schubert-Spiel ... - irgendwas hat denen nicht gefallen. Die Kritik hat darauf hinausgewollt, daß Engländer und Amerikaner ja nicht Schubert spielen können.‘ Eine Einladung, nach Wien zurückzukehren, gab es nicht. Norbert Brainin dazu: „ Das Heimweh hab ich gehabt. Und nachher, nach einer langen Zeit, hab ich mir gedacht, mein Wien ist ja nicht mehr Wien. Das hab ich da in der Not erlebt, das ist mein Wien, ich brauch nicht mehr zurückgehen. Ich hab’s bei mir, ich trag’s mit mir herum.“ Bis zum frühen Tod des Bratschisten Peter Schidlof im Jahr 1987 hat das Amadeus Quartett fast vierzig Jahre zusammengespielt. Zahllose offizielle internationale Auszeichnungen wurden den Künstlern zuteil, 1962 erhielt Norbert Brainin den Order of the British Empire, 1970 erhielten ihn auch Nissel, Schidlof und Lovett. 1983 wurde den Quartettmitglieder das Ehrendoktorat der University of London verliehen, die DGG verlieh dem Quartett das ‚Goldene Grammophon‘. Im Jahr 1999 wurde Norbert Brainin auf Anregung des Orpheus Trust mit dem Goldenen Verdienstkreuz der Stadt Wien ausgezeichnet — der Orpheus Trust organisierte dazu im Wiener Konzerthaus das „Fest für Norbert Brainin“. Im vergangenen Jahr feierte er seinen Achtziger mit einem Konzert mit Freunden in der Londoner Wigmore Hall. Am Programm: Schuberts Streichquintett D 956, eine Violinsonate von Mozart und das Klavierquartett Nr.1 von Johannes Brahms. Brainins markante Gestalt noch einmal am Konzertpodium zu erleben war beeindruckend, er selbst meinte lakonisch: „Als junger Geiger haben sie mich bestaunt, weil ich das so jung schon kann — heute tun sie es, weil ich so alt bin.“ Sein Quartettkollege Siegmund Nissel wurde zum Star einer Fernsehdokumentation. Heute unterrichtet Norbert Brainin an der ‚Hochschule für Musik Franz Liszt‘ in Weimar, an der Scuola di Musica di Fiesole, Italien, Siegmund Nissel u.a. an der Musikhochschule Köln und bei internationalen Masterclasses auf der ganzen Welt, darunter jeden Sommer in Reichenau, Österreich. Mit den Mitgliedern des Alban Berg Quartetts sind beide Mentoren der „Österreichischen Gesellschaft für Streichquartett“. Die Repertoireliste und die Diskographie des Amadeus Quartett füllen mittlerweile Bände — die frühen Einspielungen werden wieder neu auf CD herausgebracht und finden immer aufs neue begeisterte Zuhörer. Als ich noch ganz klein war, schlich ich mich verbotenerweise aus dem Bett, um, im Pyama auf der Treppe sitzend, meinen Vater und meinen Brüdern beim Streichquartettspielen zuzuhören. Als ich ein bißchen älter war, lernte ich die Aufnahmen des Amadeus Quartett kennen: Das war der wirkliche Streichquartett-Himmel. Noch schöner war es, die vier Herren später im Konzert zu hören, mit Beethoven und Schubert. Erst 33