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ORPHEUS ORPHEUS IN DER ZWISCHENWELT TRUST viele Jahre danach erfuhr ich die Geschichte dieser drei Wiener und lernte sie persönlich kennen: Norbert Brainin und Siegmund Nissel, ‚continental britons‘, aber aus Wiener Urgestein, vertrieben aus einer Stadt, die ihrer nicht wert war. Seither sind noch mehr Jahre vergangen. Der StreichquartettStil hat sich geändert, großartige jüngere und ganz junge Ensembles haben die Konzertpodien erobert. Die Schallplatten des Amadeus Quartett aus dem Haus meiner Eltern aber werden immer einen Ehrenplatz haben. Anmerkungen 1 Oral history-Interview Norbert Brainin mit Primavera Gruber am 8. 11. 1999, Archiv Orpheus Trust. 2 Ebenda. 3 Max Brainin (1909 Wien - 2002 New York), Architekt, Graphiker. Zur Finanzierung seines Studiums an der TU Wien Geigenlehrer, Musiker in Tanzschulen und Kaffeehäusern, Conferencier und „Stand-up-Comedian“. Exil USA, bis an sein Lebensende begeisterter Amateurmusiker. 4 Theodor Pashkus, geb. 1905 Preßburg, Geiger. Exil USA. 5 Ricardo Odnoposoff, geb. 1914 Buenos Aires, Geiger. 1938 von den Wiener Philharmonikern entlassen, Exil Argentinien, USA. 6 Rosa Hochmann-Rosenfeld, Geigerin, Exil USA. 7 Oral history-Interview N. Brainin mit P. Gruber, wie Anm. 1. Deutsche Grammophon Endlich liegt eine grundlegende Studie über die NS-Vergangenheit der Deutschen Grammophon, des bedeutendsten deutschen Schallplatten-Unternehmens, vor. Sophie Fetthauer hat für ihr Buch zahlreiche Quellen (nicht nur das Archiv der Deutschen Grammophon selber) erschlossen und wichtige Fakten zutage gefördert. Ihre Darstellung gibt schließlich ein sehr differenziertes Bild von der Lage und den Aktivitäten des Unternehmens bzw. seiner Mitarbeiter im Dritten Reich. Danach hat die Deutsche Grammophon in unterschiedlicher Weise die NS-Propagandamaschinerie bedient: Ab 1933 vertrieb das Unternehmen eigene sogenannte „N.S.-Aufnahmen“ sowie „Märsche und Lieder der nationalen Erhebung“, die NS-Marschmusik- und Sprechaufnahmen enthielten. Ab spätestens 1934 stellte es auch Propagandaschallplatten für die Zentralstelle für deutsche Kulturfunksendungen, eine Dienststelle im Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda, her. Die Aufnahmen wurden bei der Rundfunkpropaganda und bei der Truppen- und Arbeiterbetreuung eingesetzt. Diese Zusammenarbeit ist nach 1945 kaum jemals thematisiert worden, ebenso wenig die Beschäftigung von Zwangsarbeitern in der Fabrik der Deutschen Grammophon in Hannover. „Auch daß die Führungskräfte der Deutschen Grammophon, Hugo Wünsch und Walter Betcke, Mitglieder der NSDAP waren und daß sie von der Emigration Bruno Borchardts und Fritz Schönheimers 1933 profitierten, wurde in den bisherigen Darstellungen nicht ausgeführt.“ Andererseits geriet die Deutsche Grammophon selbst in die Schußlinie des Regimes: Aus der Sicht mancher seiner Vertreter galt die Firma aufgrund der jüdischen Herkunft einiger Mitarbeiter als jüdisches Unternehmen. Sie wurde in der Presse angeprangert, weiterhin Schallplatten jüdischer Musiker im Programm zu führen. 1942 kam es sogar zu einer Razzia durch die 34 8 Carl Flesch (1873 Wieselburg/H — 1944 Luzern), Geiger, Pädagoge. 1933 Entlassung Berlin, Exil GB, NL. 1942 in Den Haag verhaftet, nach Enthaftung (Empfehlungsschreiben Wilhelm Furtwängler) Flucht über Ungarn in die Schweiz. 9 Max Rostal (1905 Teschen — 1991 Bern), Geiger, Pädagoge, 1934 Exil GB. 10 ‚Oral history‘-Interview Primavera Gruber mit Claire Rauter am 13.11. 1999, Archiv Orpheus Trust. 11 Margaret Campbell: Peter Schidlof: a profile. In: Suzanne RozsaLovett (Hg.): The Amadeus. Fourty Years in Pictures and Words. London 1988. 12 Emil Hauser (1893 Budapest-1978 Jerusalem), Geiger, Dirigent, Pädagoge, Primar Budapester Streichquartett, Jerusalem String Quartett, Gründer und Leiter Palestine Condervatoire. 13 Oral history-Interview Primavera Gruber mit Siegmund Nissel 15.11. 1999 London, Archiv Orpheus Trust. 14 Suzanne Rozsa/Rosenbaum, geb. 1923 Budapest, Geigenstudium Musikakademie Wien bei Ernst Morawec. 1938 Gewinnerin des Kreisler-Preises in Wien. Das Preisträgerkonzert durfte sie als Jüdin nicht mehr spielen, 1938 Exil GB, Studium bei Max Riostal, Goldmedaille der Guidhall School of Music. u.a. Gründungsmitglied Dumka Piano Trio. 15 Margaret Campbell: Peter Schidlof: a profile. Wie Anm. 11. 16 Oral history-Interview Primavera Gruber mit Renée BraininMosbacher 12.12. 1999. 17 Oral history-Interview N. Brainin mit P. Gruber, wie Anm. 1. Gestapo, und es mußten in großem Umfang sogenannte „unerwünschte“ Schallplatten zerstört werden. So zeigt sich die Deutsche Grammophon als ein Mikrokosmos der deutschen Gesellschaft: auf der einen Seite mußte man sich einschränken, was den Konsum betrifft und die persönliche Freiheit, auf der anderen konnte man profitieren, wenn es um die Ausrichtung auf Verfolgung und Vernichtung ging. Nach 1945 aber hatte man keinerlei Probleme, sich als Opfer des NaziRegimes darzustellen. Die Frage, inwiefern der Rundfunk als Zentrum der nationalsozialistischen Propaganda auf die Schallplattenaufnahmen und -produktion der Deutschen Grammophon angewiesen war und die Fabrik des Unternehmens in Hannover aus diesem Grund während des Zweiten Weltkriegs nicht geschlossen wurde, ist nie gestellt worden. Der Autorin ist es zu danken, daß ihr jetzt nicht mehr ausgewichen werden kann. Gerhard Scheit Sophie Fetthauer: Deutsche Grammophon. Geschichte eines Schallplattenunternehmens im „Dritten Reich“. Hamburg: Von Bockel 2000. 247 S. (Musik im „Dritten Reich“ und im Exil. Hg. von Hanns-Werner Heister und Peter Petersen. Band 9). Orpheus Trust — Verein zur Erforschung und Veröffentlichung vertriebener und vergessener Kunst. Dr. Primavera Gruber A-1070 Wien, Sigmundsgasse 11/13 Tel. u. Fax +53 +1 526 80 92. office@orpheustrust.at. Homepage: http://www.orpheustrust.at Orpheus in der Zwischenwelt ist eine von Orpheus Trust herausgegebene, von Gerhard Scheit redigierte Beilage zu ZW. VEREIN ZUR ERFORSCHUNG UND VERÖFFENTLICHUNG VERTRIEBENER UND VERGESSENER KUNST