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enden muß? Läuft es nicht sowieso immer darauf hinaus, daß es eine Kultur gibt und nicht Interkultur, denn mehrere Kulturen, die nebeneinander existieren, bilden keine Gemeinschaft, bieten nur das Bild einer alten, lange vergangenen Ehe, höchstens. Vielleicht gehört es zum Wesen der Gemeinschaft, die Gesellschaft ist, daß es nur eine einzige Kulturform geben darf, da, sobald eine zweite entsteht, das Moment der Gemeinschaft zerstört ist. Interkulturalität müßte demnach ein Gemisch aus mehreren Kulturen sein, ein wirklicher Schmelztiegel: Elemente vieler Kulturen zu einer Kultur verquirlt. Sprache setzt stets die Existenz einer Gesellschaft voraus. Identität entsteht, laut George Herbert Mead’, durch Interaktion in Form von sprachlicher Kommunikation bzw. Kommunikation von „significant symbols‘. Identität ist somit von ihrem Wesen her gesellschaftlich. Ist das Individuum mit Identität ausgestattet, wirkt es als gesellschaftliches Wesen auf die Gesellschaft und die Gesellschaft auf das Individuum. Glauben wir Mead, ist die Identität einer interkulturellen Gemeinschaft, wie sie heute existiert, gespalten. Verschiedene Sprachen stellen, trotz gleicher Gesellschaft, verschiedene Identitäten her. Bei einer Vermischung der Kulturen müßte demnach zunächst eine Vermischung der Sprachen erfolgen, da nur so eine einheitliche Identität entstehen kann. Wie kann eine gemeinsame Sprache gefunden werden, die keine völlig neue Sprache ist? Ich könnte sagen: Bezieht die Sprache des Körpers mit ein, diese ist im Vergleich leicht zu verbreiten, da schnell zu erlernen, vielleicht eine schnelle, aber schöne Lösung, beruht beim Reden nicht mehr, als man glaubt, auf den Muskeln des Gesichts außerhalb der Zunge. Oder, gehört zum Sprechen das Fühlen dazu, lohnt es sich, möglicherweise, das Fühlen zu trainieren, bewußt zu üben, die Schönheit der Differenz zu sehen. Zu viel Toleranz wird hier nicht verlangt, sondern das Aneignen von Wissen um Differenz. Endet auch in Heuchelei, also in Abneigung gegen „politisch Korrektes“, das erlaubt, sich zugrunde zu mokieren? Ein Gegenbeispiel: Neulich, in der Galerie, tröstet mich Mädchen M. nach der Weltoffenheits-Demonstration von Galeristin G., indem sie mein Sprechen in Schutz nimmt, ihm Berechtigung zuspricht in Form von Selbstverständlichkeit, Anna Kim in Wien zu sein. Anmerkungen 1 Der bildende Künstler Jun Yang setzt sich in seinem Werk mit dem Thema Identität auseinander, bezieht sich dabei teilweise auf sein Leben als Kind chinesischer Emigranten. Das Zitat ist aus einem Online-Beitrag über Jun Yang: http://www.manifesta.org/manifesta4/de/press/pressm75.html Der gleichen Quelle entnommen: „Die Menschen verstanden seinen Namen nicht, konnten ihn sich nicht merken, schrieben ihn falsch oder interessierten sich nicht mal dafür, wie er lautete. Sein Name, der vor dem Umzug nach Europa noch aus chinesischen Schriftzeichen bestand, bekam zunächst ein ganz anderes Aussehen. Dann, und das mag mindestens eben so verunsichernd gewirkt haben, bekam er zahlreiche irrtümliche Varianten, den Jun Yangs Mitmenschen ihm verliehen. Sogar Post für Mrs June Young bekam er.“ Ähnliches habe ich im Umgang mit den Namen meiner Eltern beobachtet. Von der angesprochenen „Ignoranz“ kann ich mich selbst allerdings nicht ausschließen; den Namen meines Vaters konnte ich nicht buchstabieren, bis ich elf war. Was meinen eigenen Namen betrifft, ist dieser tatsächlich der jüdische Name Anna, entspringt also keiner koreanischen Version. Eine Anekdote hierzu: Bei der Ankunft meiner Eltern in Deutschland entstand das Bedürfnis, den Namen ins Deutsche gleichsam zu übersetzen. Da man sich an das koreanische „Original“ hielt, wurde mein Name in „An Na“ übersetzt. Seither besitze ich auf allen amtlichen (österreichischen) Dokumenten zwei Vornamen. 2 George Herbert Mead: Mind, Self, Society from the Standpoint of a Social Behaviorist. Chicago 1967. Zeichnung von Olivia Kaiser Verstreutes Verbrannte Bücher.— Löbliches geschieht: Am 7. und 14. Mai 2004 lasen „Prominente“ anläßlich - ich zitiere — „des Jahrestags der Bücherverbrennung vor 71 Jahren“ (womit gesagt ist, daß im Jahre 1933 ein Jahrestag der Bücherverbrennung stattgefunden hat, die Bücherverbrennung selbst aber 1932). Die „Prominenten“ lasen Ha$ek und Tucholsky, Brecht und Rosa Luxemburg, Alfred Döblin und Erich Kästner (dieser war gleich zweimal der Favorit), Jack London und Heinrich Mann. Die Auswahl beschränkte sich nicht auf die Werke von Autoren, deren Bücher am 10. Mai 1933 in Berlin tatsächlich verbrannt worden sind. Sie war anders beschränkt; Prominente lasen Prominente. Wäre es nicht angebracht gewesen, aus den Werken jener Autorinnen und Autoren des Exils und des Widerstands zu lesen, die in Österreich durch Mißachtung, ungerechtfertigte Abqualifizierung, Ausgrenzung im übertragenen Sinn weiterhin „verbrannt“ werden? Wäre es wünschenswert gewesen? 37