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abstrakt betrieben und entfernt sich vom Sinnlichen, Unmittelbaren, Lustvollen und Kindlichen. Seghers schreibt so, dass man mit ihr mitten im Geschehen steht. Deshalb fühle ich mich bei ihr gut aufgehoben. Sehen wir von all dem vorerst ab, ohne aber zu vergessen, wie wichtig auch schon durch diese Befunde Anna Seghers für uns junge Schriftsteller wäre. Denn leider gewinnt heutzutage oft die Pose, und derjenige, der sie als Verkaufsartikel entdeckt hat, bleibt gerne dabei. Die Magie des Wortes, die intensive, sinnliche, nah am Geschehen sich entfaltende Erzählung, sollte man der Pose entgegenstellen. Und wie steht es mit der Magie des Inhalts? Denn es ist vor allem der literarische Inhalt, der mir an dieser Stelle wichtig ist. Wir wissen es: Anna Seghers mangelte es nicht an wichtigen Stoffen. Krieg, Diktatur, Angst, Exil, Entwurzelung. Thr fielen die Inhalte in den Schoß — wie allen Künstlern in Zeiten dramatischer Ereignisse. Aber so einfach ist es nicht: Man muß sich selbst in solchen Zeiten den Stoff erarbeiten, mit ihm ringen, wach sein für seine Anwesenheit, auch wenn er inzwischen leiser geworden ist. Die Stoffe sind aber — heute wie damals — da, unter uns, sie warten darauf, gehoben zu werden. Man muss nur horchen. Doch was bleibt wirklich zu sagen und zu tun übrig, was künstlerisch zu gestalten, nachdem wir den Wohlstand - den relativen — geschaffen haben? Wo sind unsere Schlachtfelder? Wo sind unser Bangen, wo unsere unbedingte Leidenschaft, unser massloses Aufbegehren — masslos nicht massvoll, denn die Disziplinierung kommt früh genug -, unsere Rebellion, unsere enttäuschten Hoffnungen, unser Exil, unsere Flucht? Auf wie viel Sicherheit und Wohlstand, auf wie viel Erfolg sind wir bereit zu verzichten, um wieder wirksam und energisch zu werden? Wir, die Gesättigten. Wann sind wir bereit, die Lethargie zu verlassen, auszuschwärmen und das zu sein, was Schriftsteller angeblich ausmacht: sensible Fühler für das prachtvolle Leben und das geschundene Leben? Wann geben wir die narzisstische Nabelschau auf? Oder wie ich im Roman Der kurze Weg nach Hause schrieb: Was für Entscheidungen muss man treffen, damit das Leben beginnt? Für meinen Vater gestaltete sich als junger Mann die Welt einfach: Hier stand er, und dort standen die Kommunisten. Mit drei Brötchen am Tag und einem dünnen Anzug musste er überleben, und er hat überlebt. Er ist heute ein alter Mann, aber seine Sinne sind jung geblieben. Wenn ich ihm zuhöre oder anderen Alten, Armen, Entwurzelten, einfachen Menschen, dann funkeln Perlen in ihren Geschichten. Ich hingegen kenne den Mangel nicht und den Verlust nur wenig, nämlich als Bruch, der entstand, als ich über Nacht von den Eltern aus meiner ersten Heimat, Rumänien, in meine zweite Heimat, die Schweiz, gebracht wurde. Ich lebe satt und ich lebe gut. „Mit drei Brötchen am Tag würde ich verhungern“, lasse ich im selben Roman den Protagonisten seinem Vater erklären. Bisher ist für mich alles gut gegangen. Aus dem reichen Fundus an Geschichten meiner ersten Heimat — den sie mit Armut und Rückständigkeit bezahlt — machte ich Literatur. Manchmal frage ich mich: „Wann landest auch du beim Banalen?“ Und ich weiss, dass ich beim Banalen auch dann lande, wenn ich nur noch diesen Fundus benutze. Aber mir ist die menschliche Existenz als solche zu wichtig, als dass ich ihr immer die gleichen abgetragenen Kleider anzöge. Deshalb möchte ich in meinem dritten Roman eine Richtungsänderung vollziehen. Nicht mehr Ost-West, sondern Nord-Süd. Keine osteuropäischen Schicksale mehr, sondern mittel- und südeuropäische, schweizerische und italienische. Das Reisen hingegen - wie in den ersten beiden Romanen muss weiterhin sein; es scheint, dass meine Helden mit mir eines gemeinsam haben: Sie sind an keinem konkreten Ort zu Hause, sondern in der Lücke dazwischen. Muss man aber dauernd reisen, im Exil leben, um sein Leben fürchten, arm werden, um etwas Relevantes zu sagen? Nein, aber Fragen soll man sich stellen. Habe ich wirklich etwas zu sagen? Wenn ja, dann tue man es unbedingt und substantiell. Man setze auf die gründliche Recherche, auf das offene Ohr und die Neugierde für die Umwelt. Man entwickle und verfeinere einen Sinn für interessante, ja notwendige Inhalte und eine Sprache, die auf der Höhe dieser Inhalte ist. Das ist auch mein Ziel, und ich halte es für ein Gegenmittel gegen die narzisstische Nabelschau. Die innere Einstellung prägt also die Intensität, mit der man etwas tut, in unserem Fall schreiben. Die äusseren Bedingungen geben der Kreativität eine Richtung. Manchmal wünsche ich den Schweizern die Armut und bastle mir so aus diesem Land eine mir bekanntere Heimat. Eine aber, in der den Künstlern die Themen niemals ausgehen. Ich stelle mir rostige Industrieanlagen, Häuser voller Unrat und Ratten, vernachlässigte Kühe und Schlangen von Menschen vor Brotläden oder Tankstellen vor. Die Menschen tragen dann nicht polnische, russische oder rumänische Namen, sondern heissen Ueli Maurer oder Christoph Mörgeli. Christoph Blocher, diesen helvetischen Industriellen und Populisten, mit der Einkaufstasche losziehen lassen, auf der Suche nach Kaffee, Gurken und Kartoffeln — das wäre was. Bin ich böse oder zu hart mit meiner zweiten Heimat? Vielleicht. Doch während Dürrenmatt sich radikal das Ende der Schweiz vorstellte, bin ich bescheidener: Ich stelle mir bloss eine andere Schweiz vor. Fühlen Sie sich hier in Deutschland nicht sicher: Es könnte auch Sie treffen. In der Armut und in der Diktatur entstehen Mut, Phantasie, Humor, Ironie und Erfindungsgabe. Nicht umsonst verehren wir südamerikanische Literatur oder Filme. Ich will aber nichts beschönigen: Die schrecklichsten Formen der Lüge, Furcht, Manipulation und Maskenhaftigkeit erblühen ebenfalls. Im Wohlstand und in den kapitalistischen Demokratien gibt es unermessliche Chancen: Man kann sich nach vielen Seiten entfalten und Person werden. Die Maske aber — eine andere Art von Maske freilich — legt sich sanft auf unser Gesicht im Namen der Karriere, des Erfolgs, der Optimierung der eigenen Persönlichkeit. Die Geschichten sind unter uns, in Berlin, Zürich, Wien, man muss nur richtig fragen und richtig zuhören. Sie sind anders unter uns als zu Zeiten von Anna Seghers; man muss sie jetzt suchen, geduldig sein und sie an die Oberfläche bringen. Dazu aber muss man mutig werden und aufbegehren, unzufrieden werden, Kind und Grossvater in einem, Verführer und Verführter. Und ein ganzer Mensch. Wenn wir nicht nur Nichts als Gespenster produzieren wollen, müssen wir das Gespensterhafte abstreifen. „Dann wird die Geschichte gut ausgehen“, sagt der kleine Alin in einem anderen Zusammenhang in meinem Erstling Wunderzeit. Er meint die Reise zusammen mit seinem Vater ins Ungewisse, von Rumänien über Rom nach Amerika, das Land der Träume, auch der enttäuschten. Doch das zu erzählen, wäre wirklich eine andere Geschichte. 41