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Seifen, Rexona-Deos und Gebrauchtwagen. Kaum hatten sie sich 1989 von den Kommunisten befreit worden, so frei wie es eben ging, sassen sie schon alle in Opel Corsas oder Ford Taunus. Jetzt aber, sieben Jahre später, fielen sie auseinander. Ja, es gab schon etwas von drüben, das auseinander fiel, die Gebrauchtwagen der ersten Stunde, die schon bei ihrer Einfuhr, in den ersten Jahren der Freiheit, alt waren. In der winzigen Küche hatte der Vater den kleinen Nicu angeschaut und gefragt „Fliegen?“, und Nicu hatte geantwortet „Fliegen“. Dann hatte ihn der Vater an den Hüften gepackt und waagrecht über seinen Kopf gehoben, Nicu hatte den Körper versteift, die Arme ausgebreitet, und Vater und Sohn hatten in der winzigen Plattenbauwohnung das Fliegen geübt, ein Helikopter, ein zweimotoriges Flugzeug, ein Jumbojet. Und der Junge durfte alle Fragen stellen, die er wollte, in der Lautstärke, in der er wollte und bei offenen Fenstern. Es war nicht mehr wie damals, in den Achtzigern, als jeder sich vor den eigenen Gedanken fürchtete und am meisten machten diejenigen Gedanken Angst, die nach jenseits der Donau und Jugoslawiens zielten. Sogar Jugoslawien war von hier aus betrachtet eine kleine Sensation. Wenn an diesem Ufer alle im Dunkeln sassen, weil trotz des Wasserwerks Strom gespart wurde, leuchteten drüben die Lichter, als ob sie einen verhöhnten. Man kam sich wie in einer Geisterwelt vor, man erkannte auf der Strasse den Umriss des Freunds, begrüsste Umrisse und sprach mit ihnen. Im Treppenhaus arbeitete man sich tastend Stockwerk für Stockwerk hinauf zur eigenen Wohnung und stolperte in der Wohnung über das, was man bei Tageslicht nicht aufgeräumt hatte. Bis die Kerzen angezündet waren, hatte man bereits drei-, viermal geflucht über die scharfen Möbelkanten. Wer sich so, im Dunkeln, wohl fühlte, war verliebt oder blind. Eines Abends, als Nora und ihre Mutter im Bett lagen, der Vater und Nicu in der finsteren Wohnung Nachtflug übten, vom Kinderzimmer ins Elternzimmer und wieder zurück, hörten sie mal näher, mal weiter weg Vaters Stimme fragen: „Was sehen wir unter uns?“ Nicu antwortete: „Die Karpaten.“ „Und jetzt?“ „Hügel und Kornfelder, von den Karpaten bis hierher.“ „Und jetzt?“ „Ich sehe unsere Stadt, die Fabriken, die Schule, unseren Wohnblock.“ „Und jetzt?“ fragte der Vater erneut. „Ich sehe die Donau, das Wasserwerk und die Wachtürme am Ufer. Und jetzt sind wir überm Wasser. Sie haben uns nicht gesehen. Und jetzt sind wir in Jugoslawien. Noch ein bisschen und wir sind in Deutschland.“ Nora hörte, wie nebenan Mutter aufsprang und das Fenster zustiess, denn jeder hier wusste, dass die Worte der Kinder die Gedanken der Eltern waren. Vor allem die Nachbarn. Jeder war benachbart mit dem Ohr eines anderen hinter der Wand, und jeder war für andere ein benachbartes Ohr. Als Nora dann ins Elternschlafzimmer ging, sah sie den Umriss des Vaters dem Umriss des Bruders eine Kopfnuss geben, dann weinte der Umriss des Bruders und der Umriss der Mutter umarmte ihn. Sie lauschten lange, ob sich jenseits ihrer Wände etwas tat, der Vater drückte den Zeigefinger minutenlang auf die Lippen und presste durch diese ein „Schschsch“. Später, als sie im Bett lagen, flüsterte Nicu aus dem Geschwisterbett durch die halboffene Tür zum Elternbett hinüber: „Wie fliegt man am leisesten rüber?“ Vaters Flüsterton kam nach langem Schweigen: „Mit dem Deltasegler.‘“ Noch im Halbschlaf fragte sich Nora, wieso der Vater immer vom Fliegen sprach und niemals von Schifffahrten. Über die grossen Schiffe, die direkt vor der Stadt die Donau hinunter zur Hafenstadt Constanta und weiter ins Schwarze Meer hinein oder die Donau hinauf bis ins Traumland, genannt Deutschland, fuhren. Und sie mussten durch die grossen Schleusen des Wasserwerks, die sie auf der einen Seite schluckten, nur um sie auf der anderen Seite wieder herauszuwürgen. Ihretwegen hätte er auch von kleinen Schleppern und Motorbooten, von rostigen Fischerbooten und Flössen reden können, auf denen man sich genauso leise wie im Ballon ans andere Ufer setzen konnte. Wieso war die Luft wichtig und nicht das Wasser, an einem Ort, in dem die meisten vom Wasser lebten? Er lag dort, wo sie ihn hingedrängt hatte, auf der entferntesten und winzigsten Fläche des Bettes, an der Bettkante, einer dünnen Linie, die sie ihm noch zugestand. Er war so gestreckt, dass sein Körper und die Kante eins waren. Oft harrte er so stundenlang aus, ohne die Beine anzuwinkeln oder weiter in die Bettmitte zu rücken. Bequem liegen hiess, näher bei ihr zu liegen, und das kam für sie nicht in Frage, nicht nachdem sie ihn für zehn, fünfzehn Minuten ertragen hatte, auf ihr und in ihr. Und ihre Liebe war bloss Ertragen, ihr Stöhnen war Ertragen und noch mehr als alles andere war ihr Schweigen Ertragen, so sehr er sich bemühte. Das Bemühen beider war ein sich Abmühen. Das wusste Urs, nicht erst seitdem sie gesagt hatte: „Ich liebe dich nicht, aber ich komme mit dir in dein Land.“ Er, der Schweizer, gab eine erstklassige Möglichkeit ab für die Leute hier, obwohl bisher keiner etwas verlangt hatte, sondern bloss angedeutet. Doch die Andeutungen von heute waren die Forderungen von morgen, und er hätte sie gerne alle erfüllt und darüber hinaus die Andeutungen der Andeutungen, wenn Nora anders gefühlt hätte. Er hätte Berge von Fernsehern und Autos geschickt und dafür gesorgt, dass die Wohnungen gestrichen, die Badezimmer gekachelt, die Röhre ausgewechselt, die Möbel und die Kleider der Leute ersetzt würden. Niemand hatte etwas verlangt, nicht einmal Rita, als er sie für Nora, ihre beste Freundin, sitzengelassen hatte. Sie war einfach so lange in seinem Hotelzimmer geblieben, bis er die Geldscheine hervorgeholt hatte. Sie hatte die Scheine angestartt, dann sein Gesicht, dann wieder die Scheine. Sie sassen da mit den Scheinen zwischen ihnen, Westscheine, die für viele Träume gereicht hätten. Träume, die Rita gar nicht alleine hätte träumen können, sondern für die sie ihre Familie und Freude hätte zur Hilfe nehmen müssen. Gemeinsam geträumt. Gemeinsam ausgegeben. Sie sassen da im schwachen Licht und Ritas Finger waren zehn, fünf, drei Zentimeter vom Geld entfernt, doch sie griff 43