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„Auch ich habe daran gedacht“, meinte sie. Er berührte ihren Unterarm mit der Fingerspitze. Ihr „Nein“ kam ihm entgegen. Er zog seine Hand zurück. Nora entzog sich ihm immer. Rita war anders gewesen und trotzdem war es nicht Rita gewesen, bei der er geblieben war. Er hatte Rita an der Durchgangsstrasse kennengelernt, am selben Kiosk, wo, wie man ihm später erzählte, Nicu als Kind rumänische Scheine gegen Westscheine eingetauscht hatte. Rita verkaufte dort alles, was man brauchte und nicht brauchte, rumänisch und ausländisch, und an einem roten Plastiktisch servierte sie fettige Mahlzeiten. Er setzte sich hin, ass, blieb in der Stadt und am dritten Tag schon setzte sich Rita im Hotel auf seine Bettkante. Er brauchte sich gar nicht anzustrengen, damit Ritas Kopf in seinen Schoss fiel. Er merkte erst, dass sie nicht naiv, sondern gerissen war, als er bereits unterwegs war, um ihr eine Wohnung zu besorgen. Sie nannte ihn immer Er, selten Urs, denn Urs hiess auf Rumänisch Bär, und es hatte niemanden gegeben, der nicht zuerst neugierig auf ihren ersten Preis aus der Schweiz gewesen wäre, dann aber, als er den Namen hörte, in Lachen ausbrach oder sich auf die Lippen biss. Als sie ihren Eltern seinen Namen gesagt hatte, hatten sie sich verdutzt angeschaut. „Ich will nicht wissen, was er gerne isst, sondern wie er heisst“, sagte der Vater, doch sie blieb bei ihrem Urs. „Wie kann ein Mensch Bär heissen? Das ist, wie wenn dein Vater Marder heissen würde“, lachte die Mutter. „Da hätte ich es mir zweimal überlegt, mit dem Heiraten.“ „Es ist doch egal, wie er heisst, Hauptsache, er ist anständig‘, meinte der Vater, und dabei blieb es. Sie hatten jetzt den Bären in der Familie, und sie fiigten zu Urs Elvetianul, der Schweizer, hinzu, damit keine Missverständnisse entstanden. So sehr gehörte fortan Elvetianul dazu, dass ihn die ganze Verwandtschaft und alle anderen in einem Atemzug Urs Elvetianul riefen, als ob das sein Nachname wäre. Wenn einer mehr wissen wollte, erfuhr er, dass Urs für das entfernte Volk der Deutschschweizer keinerlei direkte Bedeutung hatte und sie den Namen nicht mit einem wilden Tier verbanden, das sich ausgezeichnet kochen liess. „Nein, wild kann man ihn nicht nennen“, hatte Rita gesagt beim ersten Treffen mit Nora nach dem Urs mit ihr gebrochen hatte. Sie hatten sich unten am Kiosk getroffen, jede auf ihrer Seite der Theke, Rita auf die Ellbögen gestützt und Nora angelehnt. Sie hatten zuerst geschwiegen, dann geflüstert, Nora zuerst, denn sie wusste, dass es an ihr lag anzufangen, später hatten sie schallend gelacht, erleichtert darüber, wieder die guten Freundinnen von früher zu sein. „Er gibt sich solche Mühe“, fügte Nora hinzu. „Sei froh, dass er sich Mühe gibt. Unsere Männer hier geben sich nicht einmal Mühe.“ „Ich komme mir gekauft vor.“ „Er hat dich gekauft. Darum kommst du nicht herum. Aber besser gekauft als betrogen.“ „Ich frage mich, wer hier der Betrogene ist, er oder ich?“ „Mit solchen Fragen kommst du nicht weit, Mädchen. Schau dich doch um. Immer dieser schmutzige Fluss vor der Nase und hinter dir nichts als Armut, bis zum Nordsee eigentlich.“ Nora streckte sich mehrmals, bevor sie autstand und sich anzog. Sie deckte Urs mit dem dünnen Laken zu, ging auf Zehenspitzen an ihren schlafenden Eltern vorbei, schaltete den Fernseher aus, zog auf dem Flur ihre Schuhe an, packte das Fahrrad und trug es hinaus auf die Strasse. Auf dem noch warmen Asphalt schliefen magere, verwilderte Hunde. Nora fuhr an ihnen vorbei und an den Wohnungen mit den träumenden und klatschenden Menschen drinnen. Sie hielt erst in der Nähe der Tankstelle an. Sie wollte ihren Bruder noch einmal sehen, mit den unverfälschten Augen von jemandem, der nicht über alle Berge war, um dann und wann zurückzukehren, mit der anderen Welt auf den Pupillen. Dann würde sich die Befremdung einschleichen und der Ort, woher sie zurückkam, würde eine immer grössere Rolle spielen. Sie würde niemals wieder einfach Tochter, Schwester, Freundin sein, sondern immer den Zusatz in sich tragen. Diesen bittersüssen Zusatz, den sie herbeisehnte, auch wenn Urs es war, der ihn brachte. Unméglich, Nicu noch in die Höhe zu heben. Ein grosser, sehniger Junge von knapp siebzehn Jahren in einem grünen Überzug, der kurz vor der Schliessung noch seine Tankstelle in Ordnung brachte. Nora stand auf der anderen Strassenseite im Dunkeln und schaute ihm zu. „Meine Tankstelle, mein eigenes Geld, meine eigene Wohnung“, hatte er vor einem Jahr geschrieen und die Tür hinter sich zugeknallt. „Jetzt kann der Schweizer kommen und in meinem Bett meine Schwester ficken. Ich brauche euch nicht mehr“, hatte er noch im Fahrstuhl gerufen. Aber nicht damit Urs einziehen konnte, hatte er ausziehen müssen, sondern weil eine erwachsene Frau nicht mehr mit ihrem halbwüchsigen Bruder in einem Bett schlafen kann. „Dann soll sie gehen“, hatte er gesagt, aber sie hatte nicht einmal Arbeit, er hingegen war seit kurzem Aushilfskraft bei der Tankstelle. Seit er ausgezogen war, hatten sie nur einmal miteinander geredet. Als der Winter am kältesten war, hatte er angerufen und mit der Schwester reden wollen. Sie hatte sich erst geweigert, dann aber der Mutter nachgegeben. Nicu hatte einen Wagen verlangt, einen Gebrauchtwagen seinetwegen, der den Winter, diesen und einige mehr, überstehen würde. Denn bei dem Schneetreiben konnte er kaum zur Tankstelle und am Abend wieder nach Hause kommen. Wenn Urs Elvetianul Rita eine Wohnung kaufen konnte, konnte er doch ihm einen Gebrauchtwagen besorgen. „Aber die hat mit ihm geschlafen‘, meinte Nora. „Du doch auch“, sagte Nicu. Nora versprach, Urs darum zu bitten, aber sie hatte es bis heute nicht getan. Weder im Winter, als er aus der Schweiz anrief, noch in den Wochen, seit er hier war. Weder vergessen noch aufgeschoben, sondern einfach nicht getan. Urs würde noch früh genug die Wünsche der Familie erfüllen müssen, der Fernseher war nur ein Vorgeschmack, auch wenn Urs von selbst auf diese Idee gekommen war. Das Wünschen musste warten, bis sie in der Schweiz war, es durfte nicht jenen Teil der Weste beflecken, der bisher sauber geblieben war. Der andere Teil war schon schmutzig, als sie in den Handel einwilligte: sie für die ganze Schweiz. Der Bruder schaltete nach und nach die Lichter aus, bis er in der Finsternis verschwand wie alles andere in Turnu Severin. Er stieg auf sein verrostetes Fahrrad, und als er kurz im Licht einer Strassenlampe erschien, über ihm ein Mückenschwarm, hob sie die Hand, um ihn zu grüssen. Aber er sah sie nicht, und bald war er ein undefinierbares Etwas, das sich in der Nacht am Strassenrand bewegte. „Nicht einmal das Licht funktioniert. Eines Tages überfährt ihn einer“, dachte sie, wendete das Fahrrad und fuhr zurück. 45