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Bei Rita war Licht. Es war keine Neubauwohnung, denn ausser den Reichen richteten sich alle in den alten Verhältnissen neu ein. Man möbelte die Plattenbauwohnung auf, so weit der Verfall es zuliess. Der Verfall und die eigene Geldbörse. Bei Rita war der Umfang der Geldbörse unerheblich gewesen, Urs füllte ständig nach. Die Wände wurden neu gestrichen, eine neue Badewanne und ein Waschbecken in Muschelform wurden installiert, dazu blaue Kacheln und Marmorböden, Türen mit prunkvollen glitzernden Türgriffen, Parkett und Lichtschalter, die man hinunterschalten konnte. „Da sitzt du nicht plötzlich im Dunkeln wie bei uns, wenn wir das Licht ausschalten, sondern nach und nach“, hatte Mutter kommentiert, nachdem sie Rita besucht hatte. Rita sass am Küchentisch. Ob auch die alte Küche den besseren Zeiten hatte weichen müssen, konnte Nora von der Strasse aus nicht erkennen. Bei ihr war ein Mann, und beide, das konnte sie deutlich durch das offene Fenster hören, kicherten in der je eigenen Tonlage. Doch der andere war nicht zu sehen, nur Ritas Profil und wie sie eine Tasse nachfüllte und sie weiter gab. Dann stand Rita auf, die andere Person ebenso, Nora hörte das Stühlerücken. Die zwei gingen ins Wohnzimmer, eine dünne und eine brummende Stimme, dann ein gemeinsames Lachen. Damit sie besser sehen konnte, stieg Nora, sich in der Finsternis des Treppenhauses den Wänden entlang tastend, ins erste Stockwerk des Nachbarhauses und blieb vor einem Fenster stehen. Es war ein glatzköpfiger Mann, ungefähr so alt wie ihr eigener, zu Hause im Bett. Dieser hier aber grinste dauernd, als ob er um den Sieg wüsste, den er im Begriff war zu erringen. Der Mann umfasste Rita, und sie liess es kurz geschehen, dann stemmte sie sich gegen ihn, bis er nachgab. Sie ging zum Lichtschalter und drehte ihn langsam ab, so dass es nach und nach, wie Mutter gesagt hätte, dunkel wurde. Im Dämmerlicht kehrte sie zu ihm zurück, er griff nach ihr, sie spielten und kicherten weiter, bis sie sich erneut losriss, um die Balkontür zu schliessen. Nach und nach drehte sie das Licht ab, bis für Nora nur noch eine Ahnung davon übrig blieb, was drüben geschah. Zurück auf der Strasse bemerkte sie das italienische Auto, doch auch ohne Auto war es ihr klar gewesen, mit was für einer Sorte Mann Rita sich tröstete. Die ausländischen Männer fielen schnell auf. Woran es lag, konnte keiner sagen, aber erkennen konnte sie jeder. Wieder zu Hause stellte sie leise das Fahrrad in den Flur, zog die Schuhe aus und wollte zu Urs zurückkehren, als sie ihre Mutter hörte: „Ich kann nicht schlafen. Rauchst du eine mit?“ Auf dem Balkon sah man von den beiden nicht viel mehr als die glühenden Zigarettenspitzen. Vor ihnen, zwischen den Wohnblöcken hindurch, konnte man den Streifen erahnen, der die Donau war. Dort, wo der Himmel stärker erleuchtet war, war das Kraftwerk, das Eiserne Tor. Unweit davon waren Teile jener Brücke, worauf die Legionen des Kaisers Trajan den Fluss überquert hatten, um ins Land einzufallen. „Rita hat jetzt einen Italiener“, flüsterte Nora. „Da hat ihr Gott also auch geholfen.“ „Soll ich wirklich wegfahren?“ „Bleibe hier, wenn du willst. Aber ich weiss nicht, ob du glücklich wirst.“ „Dort ist es sein Leben, aber ich wünsche mir alles, was es mir geben kann. Hier ist das Leben schlecht, aber es ist mein Leben.“ „Dann bleib.“ „Ich fahre.“ Als sie die Zigarette ausdrückte und ins Zimmer zurückgehen wollte, hielt sie ihre Mutter zurück. 46 „Du wolltest immer wissen, wieso dein Vater so viel vom Fliegen hält. Ich möchte es dir jetzt erzählen“, sagte sie ihrer Tochter. „Wir stammen aus Brasov, dein Vater und ich, das weißt du, aber den Grund, weshalb wir niemals zurückgegangen sind, auch nicht für einen Besuch, kennst du nicht.“ „Ging es nicht darum, dass eure Familien die Hochzeit nicht akzeptiert hatten?“ „Nein, das war das, was wir euch Kindern erzählten. Wir brauchten einen schlimmen Grund, damit ihr nicht ständig fragt. Die Wahrheit ist, dass dein Vater schon Jahre, bevor du geboren wurdest, aus diesem Land fliehen wollte. Eines Tages hat er sich von mir verabschiedet und ist von Brasov hierher gekommen. Er hat sich im Haus eines Freundes versteckt und einen Deltasegler gebastelt. Dann hat er nachts hinter der Stadt, auf den Hügeln, Anlauf genommen. Er war bis zur Mitte der Donau geflogen, als man ihn entdeckte und abschoss. Sie schlugen ihn blutig und schickten ihn zu mir zurück. Das zweite Mal, als er es versuchte, steckten sie ihn drei Jahre ins Gefängnis. Als er nach Hause kam, 1967, haben wir dich gezeugt. Geboren aber bist du hier, denn er wurde verurteilt, nach Turnu Severin zu ziehen. Wir hatten dann bis zum Sturz der Kommunisten, 1989, kein Rückkehrrecht und auch nicht das Recht, anderswohin zu gehen.“ „Wie kann das sein?“ „Niemand hat uns den Grund gesagt. Aber ich glaube, dass sie ihn quälen wollten. Denn für deinen Vater war es die schlimmere Strafe als das Gefängnis. Täglich die Freiheit vor der Nase. Nur einige kräftige Ruderschläge. Vom Balkon aus sieht man schon das andere Ufer. Von der Werft aus, wo er arbeitet, ebenso. Manchmal stand er hier, so wie du ihn kennst, und ich sass drinnen und schaute seinen Rücken an und wünschte, dass er nicht die Gedanken hätte, die er hatte. Versucht, hat er es aber nie wieder.“ Die beiden Frauen umarmten sich. Dann ging Nora ins Bett und legte sich neben Urs hin, aber nicht zu nah. Sie schaute ihm zu, wie er zuammengekrümmt schlief. Sie hörte seinen Atem und sah sein Zucken. Sie schloss die Augen und atmete aus. Sie riss die Augen nochmal auf, damit die Schatten und Umrisse der Gegenstände ihres Kindheitszimmers darin Platz fanden. In ein paar Stunden nur würde sie abreisen, ganz ohne Deltasegler und ohne Einsatz ihres Lebens. Nicht des sichtbaren Teils davon zumindest. Mit dieser Geschichte gewann C.D. Florescu den ersten Preis des Literaturwettbewerbs der Dienemann-Stiftung zum Thema Fliegen. - Catalin Dorian Florescu, geboren 1967 in Timisoara (Rumänien). 1982 Flucht mit den Eltern in den Westen. Seit August 1982 wohnhaft in Zürich. Mittlerweile Schweizer Bürger. Zwischen 1983 und 1989 Besuch des Sprachgymnasiums. Hochschulstudium der Psychologie und Psychopathologie an der Universität Zürich. Abschluss 1995. 1995-2001 als Psychotherapeut in einem Rehabilitationszentrum für Drogenabhängige tätig. Fünfjährige Weiterbildung in Gestalttherapie. Seit 2001 freier Schriftsteller in Zürich. Verfasser monatlicher Kolumnen in der Wochenendbeilage des „Tages Anzeigers“. Auszeichnungen: Deutschsprachiges Buch des Jahres der Schweizerischen Schiller Stiftung; Adelbert von ChamissoFörderpreis der Bayerischen Akademie 2002; Anna SeghersPreis 2003. Bücher: Wunderzeit (Roman; Zürich, München 2001); Der kurze Weg nach Hause (Roman; Zürich, München 2002).