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Wenn sie aufwacht, fällt ihr ein, daß sie etwas zu erledigen hat, nur was es ist, weiß sie nicht mehr. Sie sitzt im Sessel und beobachtet, sieht eine Fliege auf der Tischplatte, das offene Fenster, ein Blatt Zeitungspapier, das ein Windstoß durch den Raum treibt, das blinkende rote Lämpchen neben der Tür zur Toilette, die Risse im Linoleumboden. Es kommt ihr vor, als wäre sie schon einmal hier gewesen, irgendwann, bevor sie eingeschlafen ist oder noch viel früher. Alles dreht sich, kommt näher, droht sie hineinzuziehen. Sie muß aufstehen. Zentimeter für Zentimeter schiebt sie den Körper vor. Als sie den Stuhlrand erreicht, berühren die Füße den Boden. Dann umfaßt sie mit beiden Händen die Sessellehnen, drückt kräftig und steht mit einem Ruck auf. Nach einigen Schwankungen kommt der Körper ins Gleichgewicht, und sie macht sich auf den Weg. Ein Schatten folgt ihr. Sie bleibt stehen. Der Schatten bleibt ebenfalls stehen. „Guten Morgen, Frau Sonnenschein.“ „Grit, brrr.“ „Wie geht es Ihnen heute?“ Der junge Mann vermeidet das „Wie geht es UNS heute“. Das irritiert sie. Sie kennt diesen Menschen nicht. Der junge Mann nimmt sie an der Hand und führt sie zurück zu ihrem Sessel. Sie setzt sich genau so langsam hin, wie sie aufgestanden ist, nickt ein, steht wieder auf, geht. Das Spiel wiederholt sich einige Male, bis sie die Geduld verliert, „Naaa! Naaa! I’ wü’ net!“ schreit, sich von dem Mann losreißt, ihm die Faust zeigt und zielstrebig ihren Weg fortsetzt. Doch der unerwünschte Begleiter läßt sich nicht vertreiben. Schließlich steht sie vor einer Glastür. Er verstellt ihr den Weg. Sie zeigt mit dem Finger auf die Tür. „Da dürfen Sie nicht hinaus!“, sagt er. „Das wissen Sie doch!“ Sie holt tief Luft, bringt aber kein Wort heraus, sondern hebt nur hilflos die Faust. Für einige Augenblicke verzerrt sich ihr Gesicht. Sie bleibt noch einige Zeit vor dem jungen Mann stehen, geht dann zum Fenster, schaut sehnsüchtig hinaus, sieht eine Parkanlage und die Farben des Frühlings und in der Ferne die Lichter der Stadt, kehrt ihrem Peiniger den Rücken zu und bewegt sich mit kleinen Schritten zurück ins Innere des Gebäudes. Der Schatten folgt. Frau Sonnenschein reagiert auf Späße wie Kitzeln, Zwicken und Grimassenschneiden. Dann lacht sie und stammelt freundlich klingende Halbwörter. Ihr Wortschatz beschränkt sich meist auf: „Was”?“, „Ja, ja“, „Na, Na“, „Geh!“. Manchmal kommen einzelne Phrasen an die Oberfläche: „Ich bin doch nicht blöd!“, „Ich muß fort!“, „Will heim!“ „Kann nicht!“. Vor größeren Gruppen von Menschen hat sie Angst. Zu viele Augenpaare, die sie beobachten. Die Fremden reden zu viel. Sie lachen zu laut. Sie rauchen ekelerregendes Zeug. Herr Sonnenschein hat nur Pfeife geraucht, oder war es Onkel Roland? War es Onkel Roland, der damals auf dem Bett lag mit käsigem Gesicht und geschlossenen Augen? Sie hatte versucht, den Zweig eines Holunderstrauchs auf seine Brust zu legen, was ihr Prügel von der Mutter einbrachte. Durch die Gitterstäbe des inneren Käfigs blickt sie hindurch in eine Welt langsam verblassender Farben. Allmählich rücken die Gitterstäbe näher, drücken auf Rippen und Brustkorb. Wenn der Nebel reißt, der sich vor ihr Gedächtnis gelegt hat, beginnt sie zu schluchzen. Man redet auf sie ein, doch der sanfte Klang der Stimmen verstärkt ihren Weinkrampf noch. Bringt man ihr einen Topfenstrudel, lächelt sie wieder. In den nächsten Tagen gibt es Marmorkuchen, Sachertorte, Rehrücken, Zimtschnecke. Wieder Topfenstrudel. „Schauns’, Frau Sonnenschein, die Nachspeise dampft Ihnen schon bei den Ohren raus!“, heißt es. „Na, das war wieder ein zufriedenes Grunzen!“ „Miss Pinky auf Wanderschaft, wo soll’s denn heute hingehen? Da, essens lieber was Süßes.“ Auch im Hochsommer trägt sie eine Weste, meist die selbstgestrickte, rosafarbene. Sie weiß nicht mehr, wer sie das erste Mal „Miss Pinky“ genannt hat. Manchmal entwickelt sie ungeahnte Kräfte, beginnt sie zu toben. Dann kann sie niemand davon abhalten, das Gebäude zu verlassen. In solchen Fällen folgen ihr zwei junge Männer. Einer von ihnen schiebt einen Rollstuhl. „Man müßte sie ruhigstellen“, sagt jemand. „Oder anketten!“ Sie sieht sich um, geht weiter, solange bis sie vor Erschöpfung zusammenbricht, und ihre Verfolger sie in den Rollstuhl setzen und in das Gebäude zurückschieben können. Wenn sie noch die Kraft dazu hat, schreit sie. Dann preßt ihr einer der Männer die Hand auf den Mund. Gegen Abend wittert Frau Sonnenschein das Ende ihres Gefängnisaufenthaltes. Wenn sie das Geräusch der Motoren hört und in den Hof die ersten Wagen rollen, die Menschen sich in die enge Garderobe drängen wie die Schweine zum Futtertrog, dann ist die Befreiung nicht fern. Mit plötzlicher Klarheit entsteht das Bild in ihrem Gedächtnis. Wie Schweine zum Futtertrog! Wie zu Mittag, wenn alle in den Speisesaal eilen! Als junges Mädchen hatte sie Schweine füttern müssen, zu einer Zeit, als das Land tief in das Weichbild der Stadt reichte und an der Kaiser-Leopold-Straße, die später Engelbert-Dollfuß-Straße, noch später Adolf-HitlerStraße, danach Straße der Freiheit und schließlich wieder Kaiser-Leopold-Straße hieß, noch einige Bauernhäuser standen. Nach dem Ersten Weltkrieg fuhr dort wegen Strommangels wieder die Pferdetramway. Deren Klingeln fällt ihr ein und der Schrei des Kutschers „Staaation Leeeopoldstraße, Ecke Wiiiesenstraße!“ Das Klappern der Hufen und das Klingeln verstummen. Durch die Ritzen in der Bretterwand des Stalls sieht sie einen Schatten vorbeihuschen, alles zieht sich in ihr zusammen und sie bekommt weiche Knie. Die Tür springt auf und schlägt mit einem Knall gegen die Wand. Ihr Vater schreit: „Hab’ ich mit dir noch nicht abgerechnet, blöde Gör!“ und wirft mit einem 47