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Stiefel nach ihr. Der Stiefel trifft sie an der Schläfe. Sie fällt und verliert die Besinnung. Dann schwimmt sie durch ein Meer voller Farben und wacht in einem Stuhl sitzend wieder auf. Sie spürt einen kalten Schmerz auf der rechten Seite, so als würden sich Eiszapfen zwischen ihre Rippen bohren. Eine alte Frau steht neben ihr und kitzelt sie: „Kilikilikilikili. Kizkizkiz. Aufwachen, du altes Mädchen, die Autos sind schon da!“ „Wie die Schweine“, murmelt Frau Sonnenschein. „Ja, ja, Schweinsschnitzel haben wir heut’ Mittag g’habt.“ „Wo bin ich hier?“, fragt Frau Sonnenschein. „Wo ist Vater?“ „Du kannst ja wieder reden!“ „Und Vater?“ , Vater ist im Himmel, wo soll er sonst sein? Meiner ist schon 1939 gestorben. Weißt du, wie lange das schon her ist, 19397“ „Vater kommt nicht“, sagt Frau Sonnenschein. „Richtig, meine liebe runde Freundin, richtig, Vater kommt nicht, der Fahrer kommt“, erklärt die alte Frau und geht in die Umkleidekabine. Der Fahrer riecht nach Schweiß und muffigem Leder. Er nickt dem jungen Mann zu, der Frau Sonnenschein fest an der Hand hält, und fragt: „No, wie geht’s uns denn, Frau Sonnenschein? Fahren wir wieder heim?“ „Ah geh, du, du.“ „Ich weiß, ich bin ich“, sagt der Fahrer und lacht. Bestimmt freut er sich schon auf das Bier, zu dem ihn Frau Sonnenscheins Tochter einladen wird. Der junge Mann hievt Frau Sonnenscheins Beine in den Wagen, wirft die Tür zu. Mit einem Ruck reißt sich der Wagen los, drückt sie in den dunkelbraunen Ledersitz. „Na, na“, sagt Frau Sonnenschein. „Doch! Wohl!“, meint der Fahrer und grinst. Zehn Minuten später verläßt der Wagen die Schnellstraße. Hinter einer Bergkuppe, in einer Mulde am Fluß, stehen wohlgeordnet die Einfamilienhäuser inmitten liebevoll gepflegter Gärten. Die Siedlung arbeitet sich den Hügel hinauf und in den Wald hinein. Frau Sonnenschein schreit vor Freude und scharrt mit den Füßen. „Mein Gott, ja, ja, heim!“ Am nächsten und übernächsten Tag — wie an allen Tagen - dieselben Szenen: In der Früh erklärt ihr die Tochter etwas und wendet den Blick ab, der Enkel hilft ihr beim Anziehen, die fremden Männer holen sie, schieben sie ins Auto. Fröhliche Stimmen. Verriegelte Türen. Kaffee, Kipferl und Lärm zum Frühstück. Zur Mittagszeit werden im Speisesaal Fertiggerichte serviert: normales Essen, fettarmes Essen, Spezialdiätessen, salzarmes Essen, cholesterinarmes Essen. „Frau Friedhuber zwei weiße, eine rote Pille“, sagt die blonde Dame, die von allen „Frau Magister“ genannt wird. „Herr Dorfmeister drei grüne, eine weiße Pille, Frau Kraska eine orangefarbene Pille.“ Frau Magister geht durch den Speisesaal. Sie hält eine Zimtschnecke in der Hand. Nach jeder Anweisung, die sie den jungen Männern gibt, macht sie einen Bissen. „Was frißt du denn da?“ Es ist die Stimme jener Frau, die von allen „Frau Alzheimer“ genannt wird. „Ich fresse nicht“, erklärt Frau Magister, „ich esse eine Zimtschnecke.“ Frau Alzheimer sitzt weit weg von den anderen. Auch diesmal hat sie eine Semmel und ein Stück gekochtes Rindfleisch in den Mund gestopft, fünf Minuten daran gekaut und den zer48 kauten Klumpen mit den Fingern wieder aus dem Mund geholt. Konzentriert betrachtet sie die an ihren Fingern klebenden Essensreste. Die braunen Fasern des Rindfleisches wechseln ab mit dem Weiß der Semmel und der schaumigen Flüssigkeit des Speichels. Ein Speichelfaden zieht sich vom Klumpen zu ihrem Mund. „Was frißt du da?“, wiederholt Frau Alzheimer ihre Frage und blickt der Frau Magister direkt in die Augen. Ein Raunen geht durch den Saal: „Der müßte man Ohrfeigen verpassen, dieser frechen Person.“ „Entschuldige dich bei der Frau Magister!“, schreit jemand. Frau Alzheimer schmiert nachdenklich das zerkaute Essen wieder in den Teller und sagt: „Dann entschuldige bitte, du blöde Sau!“ Einen Augenblick lang herrscht Totenstille, dann folgt ein vereinzeltes Kichern und schließlich schallendes Gelächter. Frau Magister verläßt wortlos den Saal, und Frau Sonnenschein versteht, daß sie weg muß, so schnell wie möglich weg. Nie mehr kommt sie hierher zurück. Sie erklimmt einen Hügel. Dort oben steht ein Haus, kein Bauernhof, sondern eine herrschaftliche Villa, in der ein Adeliger wohnt, ein Graf, den alle fürchten. Wer dem Haus zu nahe kommt, den verschleppt der Graf und tötet ihn auf grausame Weise. Deshalb nennt man es im Volksmund „Das Haus der Blutorgien“. Zumindest hat das ihre Mutter erzählt und hinzugefügt, der Graf habe es ganz besonders auf kleine Mädchen abgesehen. Als Kind hat sie sich vor dem Haus gefürchtet und war ihm doch immer wieder gefährlich nahe gekommen. Es war von einer hohen Mauer umgeben. Das Tor war immer verschlossen. Jetzt will sie das Geheimnis des Hauses endlich lüf