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wollte sie sich weiter mit den Aufsätzen beschäftigen, war aber schon müde. Sie hatte janoch eine Woche Zeit. Ihr Mann würde bald nach Haus kommen, und sie mußte kochen. Dieses tägliche Kochen, eine unangenehme Pflicht, war ihr lästig. Die einzige Pflicht, die sie leidenschaftlich gern erfüllte, war ihre tägliche Arbeit als Lehrerin. Obwohl Sasan scheinbar nichts gegen diese Arbeit hatte, war er im Herzen nicht ganz damit einverstanden. Oft gab ihr Beruf Anlaß zu Streit. Über ein Jahr war sie nun mit Sasan verheiratet und konnte sich immer noch nicht an ihn gewöhnen. Sasan spürte es, meinte jedoch, daß die Liebe mit der Zeit schon kommen werde, sie müßten Geduld haben. Er leitete eine Baufirma und hatte nichts anderes im Kopf als neue Projekte zu entwickeln, um diese möglichst teuer an den Mann zu bringen. Ihm war nicht wichtig, wer seine Käufer waren, ob Mullah oder Militäroffizier. Hauptsache, sie zahlten. Sein Ziel war es, das Kapital zu vermehren. Neben der Arbeit wünschte er sich ein ruhiges und glückliches Leben mit Khawar, und einige Kinder. Jeden Monat erwartete er ungeduldig die Schwangerschaft seiner Frau. Seine Eltern warteten noch ungeduldiger. Sie sei unfruchtbar, meinten sie. Eine Familienschande. Ohne sich dessen bewußt zu sein, lebte Khawar im Schatten ihrer Vergangenheit. Die Wunde, die Kawehs Tod in ihr hinterlassen hatte, brach immer wieder auf. Auf der einen Seite fühlte sie sich seit der Heirat Sasan gegenüber verpflichtet, auf der anderen Seite wünschte sie sich fort vom ehelichen Zwang und von all den äußeren Formen des Zusammenlebens. Das einzige, was ihr Kraft gab, war die Erinnerung an die Zeit mit Kaweh. War Sasan fort und Khawar alleine, saß sie oft lange vor dem Bild, das Kaweh von ihr gemalt und Frau Sonne genannt hatte, und weinte. Dann schaute sie sich wieder die anderen Bilder Kawehs an, die er ihr geschenkt hatte. In dem Bild Bemühung schien Khawars Seelenzustand erfaßt, ihr vergebliches Bemühen um einen Ausweg. Zuletzt betrachtete sie das Bild Wald, die abgeschlagenen Bäume. Sie spürte Kawehs Atem, der überall hindurchging. Aus dem Dickicht richtete er seine großen grüngrauen Augen beruhigend auf sie. Und sie hörte die Stimme des Malers. Er erinnerte Khawar an ihre eigene Kraft, ihren starken Willen, beschwor sie, das Papier, das sie band, um ihrer Freiheit willen so schnell wie möglich zu zerreißen. Sie warja damals von ihrem Vater Sohrab, Großvater Khan Mohammad und durch die Tradition gezwungen gewesen, den Heiratsvertrag zu unterschreiben. Frau Sonne vergegenwärtigte Khawar ihre Jugend, ihr sechzehntes Lebensjahr, das nun weit hinter ihr lag. Beim Betrachten des Bildes seufzte sie auf, weil ihr das Lächeln nun vergangen war. Frau Sonne zeigte ein lächelndes Mädchen mit strahlendem Gesicht, mit großen Bernsteinaugen, schöngeformten Brauen und sinnlichen Lippen. Sie schaute das Bild an, in das Bild hinein und dachte an den gegenwärtigen Zustand der Frau Sonne, einer Frau, die das Morgengrauen kaum hinter sich hatte und dennoch bereits vor der Abenddämmerung ihres Lebens stand. In Sasans Wohnung hausten zwei gänzlich verschiedene Menschen. Sie hatten andere Ansichten, kamen aus anderen Welten. Ohne jede innere Verbindung lebten Khawar und Sasan unter einem Dach zusammen. Es wurde ihr immer klarer, daß es nie zu einer wirklichen Gemeinsamkeit kommen würde. Heldenmut ist wunderbar. Damit kann man Probleme bewältigen und versuchen, die Angst der Menschen in Ketten zu legen. Wer sich vor dem Taifun fürchtet und sich im Boot der Feigheit verkriecht, wird schneller als erwartet vom Strudel des Wassers in die Tiefe gezogen. Wer jedoch gegen die Wellen schwimmt, erlernt das Schwimmen. Wenn dann der Tod nach dem Schwimmer greift, hat dieser ein Argument zu sterben. In künftigen Vollmondnächten wird sein Name mit dem sanften Rauschen der Wellen wiederkehren, und die ihn hören, vernehmen ihn als wundersame Melodie. Heldenmut bewegt den Lehrer, sich von der Unterdrückung und deren Gesetzen abzuwenden, sie zu ignorieren, obwohl er weiß, was die Scharlatane mit ihm machen werden. Er wird verklagt und sagt Nein. Er wird gefoltert und sagt Nein. Er kratzt mit blutigen Nägeln an der Todeswand und sagt Nein. Er wird wieder und wieder vernommen: „Sag den Namen Deiner Gruppe!“ „Ich kenne keine Gruppierungen. Ich habe mit Millionen zu tun.“ „Arbeitest du mit dieser ... Gruppe zusammen?“ „Nein.“ „Bist du Gewerkschaftsmitglied?“ „Nein.“ „Hast du jemals bewaffnet an terroristischen Aktivitäten teilgenommen?“ „Nein. Mein vernünftiges Denken ist meine einzige Waffe.“ „Du dreckiger Hund, du! Was macht das Flugblatt der Sozialdemokraten in deiner Schreibtischlade? Und was sagst du zu den politischen Büchern, die wir bei dir gefunden haben? Du dreckiger Hund! Möchtest du vielleicht unsere lieben Kleinen solch schwachsinnige und zugleich gefährliche Dinge lehren? Möchtest du ihnen gar den Weg zur Anarchie und zur Vernichtung unserer Königsherrschaft und ihrer Ordnung weisen?“ Als seine „gerechte“ Strafe ausgesprochen war, fünf Jahre Einzelhaft, begannen sie ihn zu foltern: Ausreißen der Fingernägel, Einlauf mit kochend heißem Wasser, Abschneiden der Hoden. Es war nicht nur körperliche Folterung, auch seelische. Weder Briefe noch Besuche waren ihm erlaubt. Eines Tages ging seine einsame, hilflose Frau zum Gefängniswärter. Da sie kein Geld hatte, versuchte sie, ihn mit ihrem goldenen Armreifen zu bestechen, damit er ihr sage, ob ihr Mann noch lebe, und falls er lebe, wie es ihm gehe. Sie bekam die Antwort, ihr Mann sei im Gefängnisspital an einer Magenblutung gestorben. Weinend, hilflos und ohne seinen Leichnam kehrte sie nach Hause zurück. Ihr Herz war gebrochen. Tränen flossen über ihr Gesicht. Unruhig und zornig hielt sie ihren Ehering in Händen. Rachedurst trocknete ihre Tränen. Dann umarmte sie, was ihr geblieben war, die kleine Tochter. Als sie das Mädchen in den Armen hielt, flüsterte sie ihr ins Ohr, sie solle brav sein, Ohren und Augen offen halten, um zu beobachten, was diese Mörder machten. Es war klar, daß der Vater des Mädchens, wie viele andere, Teil des kleinen Ghom-Salzwassersees geworden war. Anstatt sie ihren Familien zur Bestattung zu übergeben, wurden viele politische Gefangene, die in der Folter zugrunde gegangen waren, in diesen See geworfen. Die Tochter hörte der Mutter zu, ohne den geringsten Laut von sich zu geben. Sie fühlte sich klein und machtlos. Erst später, als sie daran zurückdachte, wurde ihr bewußt, wie anstandslos diese Unterdrückung hingenommen worden war. Aber das Mädchen wurde stärker, und es verließ sie die Angst. Sie sagte sich: Es ist noch nicht zu spät. Eines Tages werden wir, die Kinder unserer Väter, das Blutgeld für unsere Väter zurückverlangen. Sl