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Von einer Flucht in den Osten — Auszug aus dem Buchmanuskript „Isja, ein Kind des Krieges“. Isja war fünf Jahre alt. Sein Vater kam von der Arbeit nach Hause und flüsterte der Mutter etwas zu, worauf diese in Tränen ausbrach. Isja und seine zweijährige Schwester Ljolja, die ihre Mutter nie zuvor weinen gesehen hatten, fingen laut zu heulen an, so daß sich die Nachbarn aus den Fenstern lehnten, um zu schauen, was los sei. Hätte es dieses gemeinsame Geheul nicht gegeben, könnte sich Isja vielleicht nicht mehr an den Tag des Kriegsausbruchs erinnern. An ihrem Haus zogen Tag und Nacht Rotarmisten in grünen Felduniformen, Pferde und Troßwagen in Richtung Westen vorbei. Isja und Ljolja halfen der Mutter, Papierstreifen an die Fensterscheiben zu kleben, damit sie bei Bombenangriffen nicht zerbrachen. Nach einigen Tagen kamen die berittenen Rotarmisten zurück. Ihre Uniformen waren jetzt verblichen und voll Staub. Die Mutter erzählte aufgeregt, daß unsere Soldaten den Rückzug angetreten hatten. Am darauf folgenden Tag kam Vater nach Hause und schrie: „Die Deutschen sind schon in der Nähe! Wir fahren weg!“ Die Mutter fing wieder an zu weinen. „Wir sind nicht bereit zum Wegfahren‘“, meinte sie, „wir brauchen Zeit, um zu packen.“ Doch Vater bestand darauf: „Wir nehmen nur zwei Koffer mit, alles andere bleibt da. Nimm nur die Dokumente und Geld mit, alles andere ist nebensächlich. Wir fahren gleich los. Der Wagen wartet schon.“ Vaters Unnachgiebigkeit rettete ihnen das Leben. Am nächsten Tag besetzten deutsche Truppen Tomaschpol, ihr Schtetl. Wie schön und pittoresk begann jener erste Bombenangriff, als Isja mit seinen Eltern und Ljolja aus Tomaschpol zur Bahnstation Wapnjarka fuhr, die ungefähr zehn Kilometer entfernt war. Der Kutscher trieb die Pferde an, der Karren holperte über die unbefestigte Landstraße. Links und rechts stand der Kukuruz hoch auf den Feldern. Isja lag auf duftendem Heu und schaute in den langsam dunkler werdenden abendlichen Himmel. Plötzlich bemerkte er kleine, golden schimmernde Gebilde in den Strahlen der untergehenden Sonne. „Flugzeuge!“, schrie Isja fröhlich und fing an, sie zu zählen. Alle schauten auf. Als die Flüchtlinge in der Nähe der Station waren, war es schon ganz dunkel geworden. Das Motorengeräusch verstärkte sich. Auf einmal sah man eine Feuerkugel, die langsam zu Boden sank. Sie war groß wie der Mond. „Das sind die Deutschen!“, rief Isjas Vater aus. „Stjopa, kehr um! Die Station und der Flugplatz werden gleich bombardiert!“ „Die Deutschen!“, schrie der Kutscher erschrocken, doch statt umzukehren, trieb er die Pferde mit der Peitsche an. Sie galoppierten geradewegs auf die Station zu. „Halt!“, schrie Vater, aber der Kutscher war in Panik geraten. Er hatte nur mehr den Ausruf „Die Deutschen“ im Ohr und hörte auf nichts mehr. Isja konnte die Augen von der strahlenden Feuerkugel nicht abwenden. „Was für eine schöne Bombe“, dachte er. „Jetzt wird sie auf dem Boden aufschlagen und explodieren. Aber warum fällt sie so langsam?“ 54 Auch später begriff er nicht, warum diese Bombe so langsam zu Boden gefallen war. Erst als Erwachsener erfuhr er, daß die deutschen Flieger bei nächtlichen Bombardierungen die Gegend zuerst mit Leuchtmunition an kleinen Fallschirmen auskundschafteten. Das Stationsgebäude war bereits nahe und die Feuerkugel noch nicht erloschen, als es schrecklich zu dröhnen begann. Die auf einer Anhöhe stehenden Güterwagen gingen in Flammen auf. Dicker Qualm umhüllte sie. Links und rechts blitzten Explosionen. Die Pferde wieherten und gingen hoch. Der Kutscher sprang vom Wagen und rannte ins Maisfeld. Die Eltern zogen Isja und Ljolja vom Wagen und drückten sie nieder ins Gras. Schreiende Menschen liefen in Richtung Bahnstation vorbei. Sechs Personen, von denen nur drei den deutschen Vernichtungskrieg überlebten - die Familie Greusser 1927 in Tschudnow (Ukraine), von links nach rechts: Tante Asja (1915 — 1994); Tante Manja (1920 — 1942), von einer deutschen SS-Einsatzgruppe in Tschudnow erschossen; Grofmutter Chaja (1892 — 1942), in Tschudnow erschossen; Onkel Pjotr, als Kind Petja genannt (1922 — 1993), im Zweiten Weltkrieg ein heldenhafter sowjetischer Armeeoffizier, vielfach ausgezeichnet, zuletzt Oberst; Isaak Malakhs Mutter Bella (geboren 1913); Großvater Jona (1887 — 1942), in Tschudnow erschossen. — Nicht auf dem Bild: Lusja (geboren 1926), die 16jährig in Tschudnow erschossen wurde. Sie galt als das schönste Mädchen von Tschudnow.